Planned Psychotherapy (German Version)


Friedrich S. Perls

PLANVOLLE PSYCHOTHERAPIE

(herausgegeben von Laura Perls)

Meine Damen und Herren, wir wissen nur allzu gut, daß wir in eine Zeit vielfältiger Widersprüche hineingeboren wurden.

Bis ins 18. Jahrhundert war eine geistige, eine spirituelle Vorstellung von der Welt von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Selbstverständlichkeit. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann die materialistische Sicht in der Wissenschaft und in der Vorstellungswelt vieler Menschen durch. An die Stelle der emotionalen Geborgenheit einer religiösen Weltsicht trat die intellektuelle Befriedigung, der Rationalismus, die Vorhersagbarkeit und Sicherheit, soweit quantitatives Vorgehen sie bieten konnten. Die Wissenschaft errang mit ihrer analytischen Methode einen Triumph nach dem anderen, sie zerlegte die Welt in Teilchen und arithmetische Zahlen, aber Versuche zur Synthese gingen über die Gründung des Völkerbundes und die Erfindung einiger chemischer Ersatzprodukte nicht weit hinaus.

Wir leiden vielleicht mehr als je zuvor in der Geschichte an Zweifeln und Widersprüchen, am Dualismus von Körper und Seele, Geist und Materie, Theismus und Materialismus. Selbst die fortschrittlichste psychiatrische Terminologie spricht von einer psychosomatischen Medizin, so als ob es Psyche getrennt von Soma gäbe. Im allgemeinen haben wir noch nicht gelernt, solche Dualismen als Dualitäten anstatt als Widersprüche zu betrachten. Anstelle einer integrierten Vorstellung betrachten wir die Welt eher mit einer Mischung aus Materialismus und Spiritualismus.

Unser mechanistisches Zeitalter hat die Vorstellung aufgegeben, daß die Seele etwas sei, was bei der Geburt in den Körper einströmt und ihn beim Tod oder in mystischen Ausnahmesitutationen wieder verläßt. Seele und Geist sind heutzutage zu Ausscheidungen des Hirns und einiger Hormondrüsen geworden, und ein paar Theorien, darunter die Assoziationstheorie und die Theorie vom Reflexbogen, befriedigen das Bedürfnis nach mechanistischen Vorstellungen, auch wenn sie sich widersprechen. Das Hirn und das Rückgrat werden in Abschnitte und Teilstücke zerlegt, aber niemand kann sie wieder integrieren - und ganz ähnlich verfährt man mit der sogenannten Psyche.

Die drei folgenden Hauptkonzepte charakterisieren die mechanistischen Vorstellungen in der Psychologie:

- Die Psyche ist identisch mit dem Bewußtsein.

- Der Geist besteht aus zusammengesetzten Teilchen, seine Funktionen werden vom Assoziationsgesetz diktiert.

- Wahrnehmung und Handlung bedingen sich gegenseitig durch die neuronalen Verbindungen des Reflexbogens.

Freud bewies, daß die erste dieser Theorien nicht stimmt, was die meisten Wissenschaftler heute akzeptieren.

Die Gestaltpsychologie ersetzt allmählich die zweite Theorie. Auch wenn die Gestalttheorie als Ganzes noch nicht voll akzeptiert wird, sind einige ihrer Grundkonzepte, besonders die von der Vorstellung des Organismus als einer Einheit, der mit einem einheitlichen Zweck reagiert, weitgehend rezipiert worden.1 Das entspricht eher Kurt Goldsteins organismischer Theorie und seiner speziellen Anwendung der Gestalttheorie, als daß es Bestandteil der damaligen Gestaltpsychologie gewesen wäre.

Die dritte Theorie, die vom Reflexbogen, hat sich als äußerst nützlich für die Neurologie herausgestellt. Sie ist so weitgehend als Denkmuster übernommen worden, daß geringste Zweifel an ihrer Richtigkeit die Feindseligkeit und den Spott hervorrufen, den Freud erfuhr, als er seine revolutionären Ideen zum ersten Mal veröffentlichte.

Ich will hier heute abend in keine Diskussion darüber einsteigen, aber ich will betonen, daß ich zum Beispiel nicht daran glaube, daß Lichtstrahlen auf mechanische Weise ins Hirn wandern und dort eine Handlung in Gang setzen. Ich folge lieber Professor Kurt Goldstein in der Annahme, daß das senso-motorische System aus zwei Systemen besteht, nämlich einem sensorischen System und einem motorischen System. Persönlich möchte ich hinzufügen, daß diese zwei Systeme, obwohl eng ineinander verwoben, die organischen Aspekte von Orientierung und Manipulation sind. Sowohl die Orientierung - d. h. der sensorische Apparat - als auch die Manipulation - d. h. das motorische Instrumentarium - richten sich vom Organismus auf die Umwelt, und der eine führt nicht in den Organismus hinein und der andere nicht aus dem Organismus heraus. Wenn Sie sich die Fühler eines Insektes vorstellen, oder ein Baby, das seine Primärerfahrungen mit dem Mund macht, oder einen Blinden mit seinem Blindenstock oder seinem Blindenhund, dann bekommen Sie eine erste Ahnung davon, wie die Argumente gegen die Theorie vom Reflexbogen aussehen. Wenn man die sinnlichen Erfahrungen wieder den Sinnen zuordnet, dann sind auch die philosophischen, semantischen, theoretischen und anderen Mittel der Orientierung leicht in ein einheitliches Konzept der menschlichen Persönlichkeit einzuordnen.

Die integrative Funktion des menschlichen Nervensystems führt schließlich zu einem spezifischen Blick auf die Welt, einer Weltanschauung. Eine solche Sicht der Welt ist die Blaupause, der Grundlagenentwurf für unsere Handlungen. Solange also unsere Vorstellung von der Welt magisch ist, ist auch Psychotherapie ein magischer Ritus. Das ist z. B. bei der Christlichen Wissenschaft so. Ein moralistisches Weltbild sucht die Lösung in der Ausrottung. Eine mechanistische Vorstellung von der Welt wird versuchen, innere Konflikte mit Beruhigungsmitteln und geistige Verwirrung mit dem Skalpell anzugehen. Die rein psychologischen Schulen werden versuchen, Komplexe und Widersprüchlichkeiten zu beseitigen, die Sexualtherapeuten wollen die Funktionen des Orgasmus wiederherstellen.

In einer Hinsicht jedoch scheint sich eine Verständigung der verschiedenen Schulen zumindest in der Theorie allmählich herauszuschälen, nämlich in der Annahme, daß der Neurotiker (und auf ihn will ich mich hier beschränken) eine gespaltene und dissoziierte Persönlichkeit ist und daß die Heilung durch eine Reintegration der Persönlichkeit und ihrer intrapersonalen Beziehungen erfolgt.

Trotz dieser hypothetischen Übereinstimmung sind die daraus folgenden praktischen Konsequenzen sehr eingeschränkt, wie ständige Feindseligkeiten und Polemiken - oder um Freuds Terminologie zu benutzen, die gegenseitigen negativen Übertragungen zeigen.

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Psychotherapeuten nur in wenigen Ausnahmefällen einen Grad von Integration erreichen, der es ihnen erlaubt, Dissoziationen innerhalb ihrer selbst und in anderen zu sehen und damit fertig zu werden, und es gibt auch gute Gründe, weshalb eine solche Integration für den Einzelnen wie für die psychotherapeutische Bewegung insgesamt schwer zu erreichen ist.

Da gibt es zunächst sprachliche Schwierigkeiten. Obwohl die Sprache das Basiswerkzeug des Psychotherapeuten ist Die Sprache ist das Basiswerkzeug des Psychoanalytikers. Der Gestalttherapeut kann natürlich viele andere Modalitäten einsetzen., setzen wir vielfach voraus, daß wir die gleichen Wörter mit den gleichen Bedeutungen benutzen wie die Person, mit der wir zu tun haben, oder wir erachten es als ausreichend, dem anderen unsere Bedeutung in der Erwartung zu erklären, daß der bloße Akt der Definition tief verankerte Denkgewohnheiten auflöst.

Wenn wir annehmen, und dies scheint erstmal die einfachste Theorie zu sein, daß die moderne amerikanische und europäische Persönlichkeit in absichtliche und in spontane Funktionen gespalten ist, dann können wir Neurosen als das Ergebnis eines nicht gelungenen Kompromisses zwischen diesen beiden Funktionen beschreiben. Als dualistische Persönlichkeit hat das moderne Individuum auch eine dualistische Geisteshaltung und eine dualistische Sprache. Wir denken in den Gegensätzen von Psyche und Soma, Gut und Böse, Überich und Es, Geist und Natur, Eros und Thanatos, Individuum und Gesellschaft. Nein, bisher haben wir es noch nicht geschafft, uns einer Sprache der Einheit, einer integrierten Sprache zu bedienen. Wir sehen Dualismen, wo es nur Dualitäten gibt oder die zwei Hälften eines Ganzen oder, wie im Falle der menschlichen Persönlichkeit, sehen wir den Körper oder den Geist oder das Unbewußte, wo wir nur die verschiedenen Aspekte eines einzigen Organismus vor uns haben. Wir haben einen Körper, wir sind es nicht, wir haben Gedanken und Überlegungen, anstatt die Denkenden oder Überlegenden zu sein.

Wie wir alle wissen, ist dieses Verleugnen der eigenen Anteile besonders bei zwanghaften Persönlichkeiten deutlich zu beobachten, aber davon findet sich auch in unser aller Geisteshaltung einiges, denn nach den Jahrtausenden dissoziierter Existenz und Geisteshaltung können wir die Uhren nicht auf Heraklits Zeit zurückstellen. Anmerkung der Übersetzerin: die anachronistische Metapher ist die des Autors.* Wir müssen uns neue sprachliche Werkzeuge schaffen, die unserer kulturellen Situation angemessen sind, wenn wir darauf hoffen wollen, die Dissoziationen des homo sapiens zu überwinden, wenn wir darauf hoffen wollen, daß er es wert ist zu überleben.

Außer auf sprachliche Schwierigkeiten treffen wir auch auf philosophische, nämlich auf unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Integration heißt. Manchmal ist es der Charakter, der der Integrtion bedarf, manchmal sind es die intra-personellen Beziehungen, manchmal die Triebe und in den meisten Fällen das Bewußte und das Unbewußte. Oft strebt man eine Kombination mehrerer Aspekte an, aber nur ganz selten nimmt man eine wirklich umfassende Integration in den Blick und arbeitet damit.

Die dritte Frage, die sich stellt, ist die soziologische. Können wir den Teufelskreis durchbrechen, in dem wir uns als Kulturmenschen befinden? Kann eine wirklich integrierte Persönlichkeit in einer dissoziierten Gesellschaft funktionieren? Wenn wir als Ziel der Psychotherapie die Anpassung an die Umwelt ins Auge fassen, und Sicherheit so wichtig dafür ist, müssen wir dann nicht erwarten, daß die "Integrierte Persönlichkeit" (Unitary personality) als ein seltsames Phänomen viel Feindseligkeit erfahren muß, und daß sie genau die Sicherheit zu verlieren droht, die ihr eine konformistische Einstellung geben könnte? Ich glaube, wir können diese Frage jetzt nicht beantworten. Aber das aufsprießende Interesse an Fragen der Psychiatrie in den USA zeigt, daß neurotische Verhaltensweisen deutlich ins Bewußtsein getreten sind und daß die kollektive Einsicht wächst, daß etwas faul ist im Staate Dänemark. Ganzheitliche Konzepte sind im Kommen, und wenn bereits Menschen in Leitungspositionen wie General Chisholm darauf hinweisen, daß das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, dann kann der Teufelskreis vielleicht doch durchbrochen werden. Bis es soweit ist, können wir es uns nur zur Aufgabe machen, diese integrierten Persönlichkeiten, die bereit sind, aufrichtig und in freier Spontaneität Gefahr und Unsicherheit auf sich zu nehmen, hervorzubringen. Aus dem, was ich bisher gesagt habe, ist hoffentlich klar geworden, daß bewußtes wie unbewußtes Planen jeder Behandlung von der Weltanschauung des Therapeuten geprägt ist. Vielleicht kann man zwei Gruppen unterscheiden: die eine durchkreuzt die biologische Figur-Hintergrund-Bildung, die andere unterstützt sie. Die erste verringert Bewußtwerdung und Selbstausdruck, die andere fördert sie. Die eine fördert absichtsvolles Handeln, die andere spontanes. Ein Mann, der an sexueller Impotenz litt, ging zu Coue Coué: 1857-1926. Frz. Apotheker. Entwickelte eine Form der auto-suggestiven Psychotherapie (d.Ü.) ... das ist ein typisches Beispiel für die erste Gruppe. Es unterscheidet sich nicht von Ärzten, die Beruhigungsmittel gegen Schlaflosigkeit verschreiben. Der Arzt versteht nicht, daß die Schlaflosigkeit der Versuch des Organismus ist, mit unerledigten Problemen fertig zu werden, mit unausgedrückten Emotionen und anderen ungelösten Situationen. Er verhindert, daß das Problem wirklich sichtbar wird, indem er Schlaftabletten verschreibt, die ein wirksames Mittel sind, Bewußtwerdung zu verhindern, und perpetuiert so eine Situation, mit der der Organismus in seiner unendlichen Weisheit fertig zu werden versucht.

Die zweite Gruppe, zu der Sie und ich gehören, unterstützt den natürlichen Prozeß der Figur-Hintergrund-Bildung. Denjenigen unter Ihnen, die darauf konditioniert sind, sich vorzustellen, daß der Organismus aus vielen Einzelteilen, etwa den Assoziationen, zusammengesetzt ist, mag der Ansatz der Gestaltpsychologie Schwierigkeiten bereiten. Ich will deshalb in aller Kürze das Verhältnis von Figur-Hintergrund-Bildung zu den Systemen von Orientierung und Manipulation zu Dissoziation und Psychotherapie erklären.

Ich will mit meinem Lieblingsbeispiel beginnen. Ein Soldat macht Dienst in der Wüste, nach Tagen des mühsamen Marschierens unter der sengenden Sonne kehrt er ins Lager zurück. Sein erstes Wort ist "Wasser", oder er geht selbst zum Brunnen, falls er noch die Kraft dazu hat. Eine Stunde später stellt er zu seinem Erstaunen fest, daß sein bester Freund beleidigt ist, weil er ihm nicht zu seiner Beförderung gratuliert hat. Der Freund hatte ihm nämlich direkt bei seiner Rückkehr ins Lager aufgeregt davon erzählt.

Unser Soldat hat während seines Marsches durch die Wüste eine beträchtliche Menge Wasser verloren - der Physiologe würde sagen, er ist dehydriert - sein organismisches Gleichgewicht ist solange gestört, bis er wieder eine ausreichende Menge dieser Flüssigkeit zu sich genommen hat. Seine sensorischen Wahrnehmungsmöglichkeiten versorgen ihn mit einer zweifachen Orientierung, einer inneren - nämlich der Wahrnehmung von Durst und dem Gefühl des Verlangens - und mit einer äußeren. Die Welt um ihn herum wird vollkommen unwichtig bis auf alles, was er mit seinem Durstgefühl in Beziehung setzen kann. Nur ein Bächlein oder eine Flasche Bier oder so etwas Ähnliches existiert für ihn, d. h. ruft sein Interesse hervor, wird zur Figur, alles übrige zu verschwommenem Hintergrund. Die enthusiastischen Bemerkungen seines Freundes existierten für ihn nicht, er hörte sie in der Tat so wenig wie wir das Ticken einer Uhr hören, das wir durchaus wahrnahmen, bevor wir uns in ein Buch vertieften. Der Freund war so sehr in den Hintergrund getreten, daß er gar nicht für ihn da war. Unser Soldat hat die Welt bei seiner Rückkehr so für sich eingerichtet, daß sie seinen Wünschen entsprach. Er läuft entweder zum Brunnen und stillt so sein Bedürfnis, oder er teilt seine Bedürfnisse durch Gesten oder Worte mit. Ist seine organismische Balance jedoch wiederhergestellt, dann ist sein Interesse frei für andere Aktivitäten und die Beförderung seines Freundes kann zur Figur werden, das heißt, sie kann zur Realität werden, kann existent werden.

In Ihrer Kamera haben Sie einen Sucher. Dieser Sucher erleichtert das Fotografieren im Vergleich zu der alten und umständlichen direkten Beobachtung durch die trübe Glasscheibe erheblich. Der menschliche Organismus hat ein vergleichbares System zur Verfügung, er hat das, was wir den Verstand nennen oder vielleicht besser gesagt, er hat verschiedene Verstandesebenen (strata of minds), von denen die senso-motorische wahrscheinlich die primitivste ist. Wenn wir keine Umgebung vorfinden, die nach der Figur-Hintergrund-Funktion zur Wirklichkeit werden kann, dann visualisieren wir sie in Tagträumen, nächtlichen Träumen, oder wir halluzinieren sogar die Situation, die für die Befriedigung unserer Bedürfnisse nötig ist.

Offensichtlich paßt in dieser Situation der Freudsche Begriff des Wunschdenkens. Aber die später entwickelten mentalen Systeme der semantischen Einschätzung und der höheren Abstraktion stellen uns ein noch besseres Mittel der Orientierung zur Verfügung als der senso-motorische Apparat, der eher ein - wenn auch oft wertvoller - Indikator für unsere konkreten Bedürfnisse ist. Dieses höhere Verstandessystem, das viele der Funktionen einschließt, die gemeinhin als Denken bekannt sind, kombiniert Orientierung und Manipulation in winzigen Dosen. Es wählt aus, verwirft, kombiniert, es erinnert frühere Erfahrungen, kurz, es tut all das, was Ihnen in Ihrer Ausbildung als eine Funktion des Traumes beschrieben wurde. Es versucht, ungelöste Situationen zu lösen.

Ich nenne diesen Prozeß Instinktzyklus. Der Begriff verweist auf eine Ursache und eine Absicht. Die Ursache ist eine Störung - z. B. Dehydration - die das organismische Gleichgewicht stört, und die Absicht ist die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes. Was Ursache und angestrebtes Ziel verbindet, sind die Figur-Hintergrund-Formation, Spannungen oder Triebe - in unserem Beispiel von oben Durst - Intelligenz, Leistungsfähigkeit und Charakter. Intelligenz ist dann das angemessene Funktionieren des Orientierungssystems, Leistung das des motorischen Systems. Zusammen ergeben sie das Verhaltensmuster, das schließlich als Charakter Fritz hat hier anscheinend Reichs Definition von Charakter als Muskelpanzerung vergessen. In der Terminologie der Gestalttherapie ist Charakter eine fixierte Gestalt, die zu einer Blockierung des fortlaufenden Prozesses von Assimilation und Integration geworden ist. und Persönlichkeit integriert wird.

Ich habe die Arbeit des Organismus beschrieben, als sei sie letztlich spontan und biete wenig Raum für bewußte Handlungen - zum Beispiel für so etwas wie Planung. Es muß hier betont werden, daß die bewußten Handlungen zu diesem Zeitpunkt harmonisch im Dienste des Organismus stehen, sie erweitern seine Überlebensfähigkeit, statt sie zu stören.

Das Bild verändert sich durch die ständige Akkulturation. Herrscher, privilegierte Klassen und andere soziale Faktoren führen Tabus ein und erteilen Befehle. Die Moral besteigt den Thron, die Willenskraft wird glorifiziert, und intentionale Handlungen werden verlangt. Aber diese bewußten Aktivitäten sind letztlich oft ein "Nein" zu vielen Instinktzyklen, sie untergraben die biologischen Grundlagen des Menschen, degenerieren ihn und bringen schließlich den Prozeß hervor, von dem wir das zweifelhafte Vergnügen haben, ihn beobachten zu dürfen, nämlich die rapide Gefährdung der menschlichen Überlebenschancen. Das sieht man nur allzu deutlich an den schnell ansteigenden Zahlen von Geisteskrankheiten und psychosomatischen Erkrankungen und auch an der weitverbreiteten Sehnsucht nach besseren Versicherungsmöglich-keiten - dem Ruf nach immer mehr Sicherheit. Was können wir bei diesen trüben Aussichten tun? Können wir aus dem Teufelskreis aussteigen oder ihn gar anhalten?

Das man in den USA so sehr auf die Psychiatrie setzt, birgt zugleich Hoffnung und Gefahr. Die Analyse, die viele Jahre dauert, ist in dieser Notsituation ein großer Luxus, und Kurzzeittherapien ermöglichen nicht die Entwicklung der integrierten Persönlichkeit, die allein das Überleben der Menschheit garantieren kann.

Die amerikanische Regierung beginnt, wenn auch bisher eher chaotisch, einen Kampf gegen Persönlichkeitsstörungen, und so weit es Erziehung und Gruppentherapie betrifft, wird bereits Sinnvolles für die geistige Gesundheit geleistet. Aber wie steht es mit den Behandlungsmöglichkeiten?

Wie viele andere habe auch ich versucht, die Behandlungsdauer der Psychoanalyse zu verkürzen, war mir aber die ganze Zeit dessen bewußt, daß ich nicht Gründlichkeit opfern, sondern Effizienz vergrößern müßte. Durch meine eigene Erfahrung mit den Freudianern und in vielen vergeudeten Jahren habe ich gelernt, manchen Fehler zu vermeiden. Aber das reichte nicht. Ich betrachtete die klassische Analyse wie wir heute die ersten ungeschickten elektrischen Maschinen sehen, und fand dann, daß man sie - wenn ich mir den amerikanischen Ausdruck erlauben darf - stromlinienförmiger anlegen könnte. Die Gestaltpsychologie und der Trend zur Semantik waren mir Orientierungshilfen. Schließlich stieß ich auf eine lächerlich einfach Theorie: wenn der Neurotiker eine dissoziierte Persönlichkeit ist, dann muß man nur all die dissoziierten Teile der Persönlichkeit wieder einsammeln und sie reintegrieren. Wegen ihrer Verschwommenheit und Widersprüchlichkeit mußte ich die Libidotheorie aufgeben, ihre Klebrigkeit konnte ich auch nicht dazu benutzen, die dissoziierten Anteile der Persönlichkeit wieder zusammenzuleimen. So überließ ich sie dem Todestrieb, verabschiedete mich von meiner Verehrung für die Götter Eros und Thanatos und versuchte, neue Wege zu finden. Der Mensch ist mit der Natur verbunden und unterliegt deswegen auch den Naturgesetzen. Die moderne Physik hat entdeckt, daß es keine isolierten physikalischen Kräfte gibt, sondern daß diese Kräfte Funktionen der Materie sind. Deswegen suchte ich nach Funktionen, nicht nach Kräften. Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Integration, so stellte sich heraus, ist weitgehend eine Sache der Assimilation und des Kontaktes, Aggression ist eine Funktion des Umgangs mit der Umwelt, besonders wenn sie im Dienste der Nahrungsaufnahme steht. Symptome, Erinnerungen und Gewohnheiten sind biologische Prozesse. Mit dieser neuen Sichtweise habe ich auch für mich selber an Integration gewonnen. Von da an ging es bergauf. Sich integriert zu wissen, eine Unitary personality zu sein, ist großartig, denn: Integration fördert die ihr eigene Entwicklung, genauso wie Spaltung die persönliche Entwicklung hemmt oder gar rückgängig macht.

Diese neuen Einsichten liefern uns auch klare Hinweise darauf, wann eine psychoanalytische Behandlung zu beenden ist. Sobald ein Patient auf dem Weg zur Integration so weit gekommen ist, daß das bisher gewonnene Maß an Integration die Entwickung unterstützt, können wir ihn ganz sicher alleine weitergehen lassen. Vielleicht können wir dieses Kriterium auch in der Kindererziehung fruchtbar machen und vorsichtig formulieren: ein Kind will keine Zuneigung, es verabscheut sie sogar, wenn es davon erstickt wird. Das Kind will Unterstützung, und das bedeutet: Gelegenheit und Hilfe bei seiner Entwicklung.

Jetzt erwarten Sie vielleicht, daß ich weiter erkläre, wie meine Sicht der menschlichen Persönlichkeit sich von anderen psychoanalytischen Konzepten unterscheidet. Da muß ich Sie leider enttäuschen. Eine detaillierte Darstellung - die über das hinausgeht, was ich bisher gesagt habe, würde viele Stunden dauern, und ich fürchte, ich habe Ihre Geduld schon über Gebühr in Anspruch genommen. Allerdings würde ich gerne noch etwas zu den praktischen Anwendungen meiner Überlegungen sagen.

Ganz simpel ausgedrückt: meine Methode besteht aus Ansporn und Nachfrage. Ich erlege meinen Patienten Übungen auf, die der Art und Weise und der Schwere ihrer Spaltung entsprechen und die ihrer Integration dienen. Ich weiß sehr wohl, daß sie oft nicht dazu in der Lage sind, diese Übungen effektiv zu machen, deswegen untersuchen und analysieren wir Stückchen für Stückchen die Schwierigkeiten und Widerstände, die sie dabei erfahren.

Was meine Therapieplanung betrifft, so unterscheide ich mich nicht sehr von anderen Psychotherapeuten. Wenn ein Freudianer denkt, daß die Neurose Ergebnis einer kindlichen Amnesie ist, dann wird sein Plan darauf hinauslaufen, die ganze Kindheit ins Bewußtsein zu heben, und dieses Ziel verfolgt er mit seinem Handwerkszeug der freien Dissoziation und der Gedankenflucht.

Ein anderer sucht Widersprüchlichkeiten in der Charakerbildung, vergißt dabei die biologischen Grundlagen und behandelt den Charakter, als sei er abgetrennt vom Organismus als Ganzem, ähnlich vielleicht wie in religiösen Vorstellungen die Seele. Ein Adlerianer pumpt systematisch Selbstbewußtsein in seinen Patienten hinein und hebt damit dessen Selbstvertrauen. Wenn er an Einflüsse von außen glaubt, arbeitet er mit Suggestionen, wenn das Problem im Orgonon liegt, befreit er vegetative Energien mit dem Ziel des perfekten Orgasmus. Wenn semantische Blockaden der Sündenbock sind, dann benutzt er das strukturelle Differential zur Heilung.

Ich glaube, daß mein Konzept, weil es den Organismus als Ganzen betrachtet, umfassender und deshalb auch im Ganzen erfolgreicher ist, als die genannten Methoden, und mit Ausnahme der Ansätze von Reich und Korzybski ist mein Konzept auch methodischer. Da ich in meiner Theorie davon ausgehe, daß die grundsätzlichen menschlichen Funktionen die Orientierung und die Manipulation sind, dient jeder Eingriff in den biologischen Instinktzyklus der Aufrechterhaltung der für den Patienten spezifischen Spaltung, und zwar dadurch, daß er Bewußtwerdung verringert oder den freien Gebrauch des motorischen Systems behindert. Unsere Patienten sind desensibilisiert oder unbeholfen oder beides zugleich. Die Tatsache, daß man mit Psychotherapie überhaupt irgend ein Ergebnis erreichen kann, wird mit einem sehr wichtigen Faktor erklärt: man liest oft von Triebunterdrückung. Diese Annahme ist falsch. Triebe können wahrscheinlich überhaupt nicht unterdrückt werden. Das würde nämlich eine völlig veränderte körperliche Verfassung bedingen. Was unterdrückt werden kann, ist ihr Ausdruck und ihre Befriedigung. Die Figur-Hintergrund-Formation kann man durcheinanderbringen, wenn man seine Aufmerksamkeit absichtlich auf etwas anderes richtet. Man kann auch die Bewußtwerdung eines Bedürfnisses zum Beispiel durch Amnesie, Skotomisierung (Einschränkung des Gesichtsfeldes), Frigidität, semantische Blockaden und so weiter ausblenden und ihren Ausdruck und ihre Befriedigung verhindern durch sprachliche oder motorische Blockaden, etwa Lähmungen oder (öfter) Muskel-verkrampfungen.

Um diese pathologischen Störungen aufzulösen, verlasse ich mich auf die detaillierten Beschreibungen des Patienten von dem, was er wahrnimmt, und auf meine eigene Beobachtung, und ich versuche, so wenig wie möglich zu Konstruktionen oder Vermutungen - Interpretationen zum Beispiel - zu greifen, und ich bleibe so nahe wie möglich an der Realität der Situation in der Therapiesitzung.

Laut Freud erlaubt das Realitätsprinzip eine vernünftige Anpassung an die Gesellschaft. Besonders von Mitgliedern dieser Gruppe wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß Freud eine zu rigide Ansicht von der Gesellschaft im Allgemeinen hatte und den Unterschiedlichkeiten der individuellen Umwelten im Besonderen zu wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Für mich ist die Realität die Gegenwart. Die Vergangenheit existiert nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Während Freud zu viel Wert auf Ursachen und Vergangenheit legt, betont Adler zu sehr die Zielausrichtung und die Beschäftigung mit der Zukunft, und beide verpassen sie dabei die Balance der Gegenwart. Vor etwa einem Monat machte ich eine schockierende Erfahrung. Nach Jahren der psychoanalytischen Behandlung, zuerst bei einem der führenden Vertreter der klassischen Schule, später bei einem anderen, kam eine Dame in einem ziemlich schlechten Zustand zu mir. Während sie davon erzählte, zuckte sie zweimal zusammen, als erschrecke sie sich ganz fürchterlich. Beides mal geschah das, als sie sich traute, Zweifel anzumelden. Ich fragte sie, was ihr Analytiker zu diesen Zuckungen gesagt hätte. Sie antwortete: "Er hat sie nie bemerkt." Hätte ich diese beiden Analytiker über ihr Vorgehen befragt, würden sie natürlich beide behaupten, daß sie von Gegenwärtigem ausgingen. Vielleicht tun sie es ja sogar. Auch wenn ich nur einen einzigen Krümel zum Frühstück zu mir nehme, kann ich behaupten, daß ich etwas gegessen hätte. Übrigens, sie erholt sich gut von ihrer Psychoanalyse. Als ersten Schritt auf dem Weg zur Integration unterstütze ich alles, was der Wahrnehmung dessen dient, was ist: die Erfahrung des Selbst und der Welt. Der Neurotiker hat zu wenig Kontakt mit der Realität. Außer, daß er die Gesellschaft anderer meidet und in intellektuelle Denkspiele ausweicht, finden wir ihn auch oft auf der Flucht in die Vergangenheit, beim Suchen nach sogenannten Ursachen oder Erklärungen und bei anderen Versuchen, die Verantwortung zu vermeiden, oder er flüchtet in die Zukunft, zum Beispiel in Tagträume, er wartet auf Belohnungen des Himmels, er baut Luftschlösser.

Einer meiner Patienten verbrachte die ersten eineinhalb Jahre seiner Behandlung damit, seinem Analytiker zu erzählen, wie schwierig seine Frau, wie enttäuschend seine Freunde, und wie problematisch seine geschäftliche Lage sei. Bereitwillig produzierte er Assoziation zu den unterschiedlichen Menschen und brachte viel Material. Allerdings war auch die gegenwärtige Situation, nämlich die der Analyse, von Bedeutung. Als er mir von all diesen Leuten vorklagte, forderte ich ihn dazu auf, seiner jammervollen Stimme zuzuhören. Wir redeten dann darüber, daß er es vermied, die entsprechenden Leute zu konfrontieren, was nämlich geheißen hätte, persönlichen Kontakt mit ihnen aufzunehmen, stattdessen beklagte er sich immer nur bei dem einen über den anderen.

Ich fange gerne mit einer pedantischen Übung an: ich bitte den Patienten darum, jeden Satz mit "jetzt" oder sogar "hier und jetzt" anzufangen, also etwa: "Jetzt liege ich auf der Couch, jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll, jetzt fühle ich, wie mein Herz schlägt, jetzt denke ich gerade daran, wie ich gestern mit meiner Frau Krach hatte." In der letzteren Bemerkung wird die Verbindung zwischen der Bewußtwerdung einer leichten Besorgnis und der Erinnerung an die Beziehung des Patienten zu seiner Frau ganz offensichtlich. Oft aber flüchtet der Patient vor der direkten Erfahrung der Gegenwart. Er verschwindet lieber in die Vergangenheit oder er springt in die Zukunft, besonders, wenn er Erfahrungen mit der Freudschen oder Adlerschen Methode hat. Ich bleibe aber dabei, daß die Vergangenheit nur von Bedeutung ist, insoweit sie unerledigte Situationen repräsentiert - zum Beispiel unverdaute Erfahrungen. Die Flucht in die Zukunft wird auch dann pathologisch, wenn der Patient, anstatt sich mit gegenwärtigen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, sich mit "falls" und "wenn" und anderen Tagträumereien betäubt. Wir träumen immer in der Gegenwart, wir erfahren einen Traum als gegenwärtig. Das Wissen um dieses Phänomen wird in der Hypnose verwendet, wenn man den Patienten dazu anleitet, wie in einer Zeitmaschine Orte der Vergangenheit aufzusuchen. Diese Vorgehensweise kann auch ohne die Komplikationen der Hypnose eingesetzt werden. Probieren Sie es an sich selbst aus. Erinnern Sie sich an irgendeinen Ort ihrer Kindheit zurück und beschreiben Sie ganz einfach alles ganz detailliert, was Sie sich bildlich vorstellen. Sie werden staunen, was für eine Menge vergessenen Materials Sie wiederentdecken werden.

Wenn der Patient das Konzept "jetzt" verstanden hat, lasse ich das Wort "jetzt" meistens weg und mache ihn mit der Grundregel vertraut, die da heißt, daß er mir alles mitteilen soll, was er tut, denkt, fühlt und erlebt, daß er nichts absichtlich zurück-halten soll, aber er soll sich auch nicht dazu zwingen, etwas zu sagen, was er nur ungern ausdrückt. Er soll nur andeuten, daß es etwas gibt, was er nicht mitteilen kann oder will.

Wie Sie sicher bemerkt haben, bezieht sich der letzte Teil der Grundregel auf den Umgang mit dem Zensor und die Frage der verschiedenen Formen des Widerstandes, wie zum Beispiel Scham, Angst, Ekel, Höflichkeit und so weiter.

Der erste Teil der Regel ist, so weit ich das übersehen kann, umfassend, vor allem, wenn Sie sich daran erinnern, daß Denken Orientierung und Manipulation in kleinen Dosen ist, daß Denken unsichtbare Handlung ist. Die Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten zur Kooperation läßt sich zu diesem Zeitpunkt gut daran messen, ob er ohne Bezug zur Gegenwart in die Zukunft oder Vergangenheit entflieht. Das allgemeine Verhaltensmuster seiner interpersonellen Beziehungen spiegelt sich nun auch in der analytischen Situation. Er ist vielleicht sklavisch gehorsam, oder er macht sich über das Verfahren lustig, oder er kooperiert an der Oberfläche, führt aber die Regel ad absurdum, er spricht über die Regel, aber er hält sich nicht daran. Wenn er sich nicht an die Regel halten kann, obwohl er schon wirklich erschütternde Erfahrungen gemacht hat, dann ist das immer ein Zeichen für beträchtlichen Widerstand, und den kann er dann auch langsam als solchen erkennen.

Ich will kurz zwei Fälle darstellen, die zwei Extremvarianten von Kooperation demonstrieren:

Der erste Fall ist der einer Frau von etwa 40 Jahren, Sozialarbeiterin mit dem Ehrgeiz, Psychoanalytikerin zu werden. Sie spricht sehr gekünstelt und ersetzt Inhalte durch Fremd-worte. Sie ist eher grob vom Typ her, hat aber die Illusion, eine Dame und für höhere Dinge im Leben geboren zu sein. Lange Zeit konnte ich nichts tun als sie immer wieder dazu überreden, die Basisübung zu machen. Sie bestand einfach darauf, das sei Zeitverschwendung, daß sie sich langweile, oder sie benannte einfach die Gegenstände im Zimmer. Außer gelegentlichem Herz-klopfen spürte sie gar nichts. Sie war, um es deutlich zu sagen, weitgehend von ihren Gefühlen abgetrennt und intellektuali-sierte, wenn man denn diese dementia verbosa Intellekt nennen kann. Zu der 14. unserer Sitzungen kam sie dann allerdings mit einem Notizbuch in der Hand, in dem sie die Regeln, nach denen ich sie zu analysieren hätte, aufgeschrieben hatte. Sie lag eigentlich immer in einer sehr abweisenden Haltung auf der Couch, an diesem Tag aber zeigte sie sich etwas offener, wurde nach einiger Zeit recht unruhig und bemerkte das auch. Schließlich brach sie in Tränen aus und sagte: "Ich fühle mich wie ein Schiff, das hin- und hergeworfen wird. Ich muß die Oberhand behalten, sonst gehe ich unter." Bis zu diesem ersten Durchbruch hatte es 14 Stunden gedauert, - aber der Durchbruch brachte nichts. Im Gegenteil, sie wurde sogar immer schwieriger und wollte aufhören. Da ich meine Patienten eigentlich nicht für ihre Widerstände verantwortlich mache und ihnen Schuld zuweise, mußte ich mich folglich meinen eigenen Unzulänglichkeiten stellen, und da stieß ich auf das folgende Faktum: Ich war in den Fall persönlich verwickelt. Ich hätte mich so gerne mit Erfolg bei ihr gekrönt, sie hätte mir und der Welt beweisen können, daß ich auch mit so schwierigen Fällen fertig würde. Das heißt, ich hatte die analytische Objektivität verloren und hatte sie zu einem Gegenstand meines Ehrgeizes gemacht. Anstatt mich mit der vorliegenden Situation zu befassen, war ich dem Denken an die Zukunft verfallen, dem Zweckdenken. Des weiteren bemerkte ich, daß ich ärgerlich geworden war, als sie mit ihren Vorschlägen herausgerückt kam, ärgerlich darüber, daß diese aufgeblasene Nummer mir zeigen wollte, wie ich vorzugehen hätte. Dieser Ärger war ein Zeichen dafür, daß sie recht haben mußte. Sie konnte mir tatsächlich etwas beibringen, und sie tat es auch: nämlich, daß ich mich in meiner eigenen Theorie verheddert hatte, nämlich daß ich, statt auf die Aktualität ihres Symptoms, ihr Bedürfnis top dog zu sein, zu schauen, darauf reagiert hatte.

Ich ließ sie dann ihr Bedürfnis ausleben, Vorschläge zu machen und Forderungen zu stellen. Schließlich kristallisierte sich ihr Wunsch heraus, unter jeder Bedingung angenommen zu werden. Ich erklärte ihr, daß sie zwar akzeptiert werden wollte, daß sie aber nicht bereit war, mich und meine Art, mit ihr umzugehen, zu akzeptieren, und darüber hinaus, daß sie nicht bereit war, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren. Langsam beginnt sie, ihren neurotischen Konflikt zu verstehen, nämlich den Kampf zwischen der künstlichen Fassade und dem emotionalen Selbst, vor dem sie sich fürchtet.

In dem anderen Fall sind erst fünf Sitzungen zustande gekommen. Der Patient ist Philosophiestudent und als schizoid diagnosti-ziert. Er kam zur Analyse, weil er den Geschmack am Leben verloren hat, er trug sich mit Selbstmordgedanken, kann sich nicht mehr konzentrieren. Er ist homosexuell, lebt seine Sexualität aber nicht aus. Philosophisch sieht er sich Aristoteles nahe, in letzter Zeit hat er aber Interesse an Husserl und den französischen Existentialisten entwickelt.

Da mein Ansatz sich auf Husserls Phänomenologie bezieht, fand er es nicht schwierig, mir zu folgen und nach der ersten halben Stunde konnte ich zum nächsten Schritt übergehen - dem Umgang mit Prozessen. Während es anfänglich ausreicht, wenn der Patient versteht, daß etwas "da ist" muß er später verstehen, daß etwas "vorgeht", und zwar kontinuierlich. Er muß sich mit der Tatsache vertraut machen, daß seine Erfahrungen, sein Verhalten, seine Symptome, seine Gedanken usw. Prozesse sind. Ereignisse der Raum-Zeit. Sie dauern an. Er muß lernen, sich auf sein Symptom zu konzentrieren und dann die Entwicklung zu verfolgen, die in ihm vor sich geht, sobald er in Kontakt damit ist, sobald er wieder sensibel dafür wird und Bewegung in die Symptomatik kommt.

Was jetzt folgt, ist eine Ausschnitt aus der dritten Stunde. Er erzählt: "Meine Stirn tut weh, mein Mund ist ausgetrocknet, mein Kopf möchte sich in das Kissen zurückdrücken. Jetzt bin ich außer Atem. Ich sehe, wie ich eine Straße entlang renne, ein Auto fährt über mich, aber es berührt mich nicht. Ich weiß nicht, ob das wirklich passiert ist. Meine Knie sind ganz schwer, meine Augen wollen sich schließen, ich habe das Gefühl, weinen zu wollen, aber ich kann nicht. Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr geweint." Dann fängt er an, von seinem Vater zu erzählen, der von einem Auto totgefahren wurde. Er erzählt dies und weitere Einzelheiten des Unfalls und des Todes mit sehr sachlicher Stimme. In dem Moment aber, als er sich den Sarg bildlich vorstellt, bricht er in lautes, intensives und echtes Weinen aus.

Eben dieser Patient hat ein Syndrom, das sich am besten mit Hilfe von Hausaufgaben angehen läßt. Diese Hausaufgaben sind wichtig, wenn es darum geht, die Behandlung zu verkürzen. Obwohl die klassische Analyse verlangt, daß der Patient sich ganz der Analyse hingeben soll und er damit aufhören soll, Sachen zu tun, freut sich auch der Freudianer, wenn die Patienten etwas über sich selbst herausfinden oder sich trauen, eine Straße zu überqueren, obwohl sie an Agoraphobie leiden. Warum also soll man dann die Kooperation des Patienten nicht planen und miteinbeziehen, oder, wie im Falle der unbewußten Sabotage oder der zwanghaften Ersatzhandlungen, diese benutzen, um die Bewußtmachung der Widerstände zu mobilisieren?

Unser Philosophiestudent hat den Kontakt mit und den Geschmack an seiner Umwelt verloren. So weit ich das beurteilen kann, geht das immer einher mit einem tauben Gaumen. Er genießt und schmeckt seine Nahrung nicht. Er hat am Essen nur Freude, wenn er für einen anderen kocht, und dem anderen schmeckt es. In einem solchen Fall verordne ich Übungen rund ums Essen. Das fängt damit an, daß ich Beobachtungen anstellen lasse, wieviel Aufmerksamkeit der Patient seinem Essen schenkt. Liest er oder hängt er Tagträumen dabei nach? Schlingt er sein Essen hinunter, oder anders gesagt, trinkt er gleichsam selbst feste Nahrung?

In der fünften Sitzung berichtete er, daß er bereits anfange, sein Essen zu schmecken und entsprechend werde auch sein Leben wieder interessanter. Er gehe wieder aus und nehme wieder Kontakt mit seinen Freunden auf. Obwohl er sich im großen und ganzen immer noch sehr hölzern ausdrückt, kann ich schon einige Lockerungen seines Gefühlslebens beobachten, z. B. lächelt er manchmal flüchtig.

Wenn ein Patient sich gegenüber seinem eigenen bildlichen Vorstellungsvermögen blind gemacht hat und anstatt von Bildern nur Wörter in seinem Kopf hat, versuche ich, ihn Interesse an seiner Umgebung entwickeln zu lassen, statt daß er sie nur abstrakt wahrnimmt. Gleichzeitig versuche ich, seine Zurückhaltung aufzuweichen und ihn einen Eindruck von der Welt da draußen gewinnen zu lassen.

Die Patientin, die ich weiter oben erwähnte, hat eine völlige Visualisierungsblockade. Aber im Augenblick stellt sich noch gar nicht die Frage, wie ich das Problem mir ihr angehe, denn im Augenblick ist sie nur daran interessiert, wie die Welt sie sieht.

Ein intelligenter und gewissenhafter Ausbilder kam wegen seiner sexuellen Impotenz zu mir in die Analyse. Er sprach sehr schnell auf die Konzentrationstechniken an. Nach einigen Sitzungen zappelte er auf der Couch herum, und erinnerte sich dann daran, daß er genau so zappelte, als er neun jahre alt war und seine Mutter ihn dazu zwang, ruhig zu liegen, während sie Würmer oder so etwas ähnliches aus seinen Genitalien entfernte. In den darauffolgenden Sitzungen veränderten sich seine Bewegungen und wir gingen ihnen mit Interpretationen nach. Aber gerade daß er so leicht und schnell mit Interpretationen zur Hand war und auch, daß er mit Reichs Arbeit vertraut war, machte mich mißtrauisch. Vielleicht versuchte er nur, seiner eigenen Erwartung an eine Reichianische Analyse gerecht zu werden. Ich war auch nicht so schnell bereit, meine Überzeugung aufzugeben, daß die aktuelle Situation von entschiedener Wichtigkeit sei. Schließlich produzierte er Unruhe als Symptom, und die hörte nicht auf. Zum ersten Mal konnte er selber keine Interpretation dafür liefern. Er konnte einfach nicht ruhig auf der Couch liegenbleiben. Eine oder sogar beide Schultern hielt er immer nach oben gekrümmt. Ich fand, er sehe aus wie in einem Ringkampf. Diesen Eindruck bestätigte er. Er erinnerte sich an einen Ringkampf, in dem er sich mit dieser Haltung zu wehren versucht hatte. Das Symptom dauerte an oder, besser gesagt, er behielt seine Körpersprache bei, bis ich ihn fragte, ob diese Körperhaltung vielleicht symbolisch seine Haltung zu mir aus-drücke. In diesem Moment ließ er los. Wir hatten uns einige Zeit vorher über experimentelle Psychologie gestritten, und er hatte damals wie heute rigoros abgelehnt, sich meinen Ansichten anzuschließen. Auf meine Frage: "Könnten wir uns nicht vielleicht darauf einigen, verschiedener Meinungen zu sein?" beruhigte er sich und lehnte sich zum ersten Mal entspannt zurück.

Den meisten Patienten macht es keine Schwierigkeit, ihre Desensibilisierungen und Verkrampfungen direkt anzugehen. Im Gegenteil, sie bemerken schnell, daß etwas passiert; sie sehen, daß schmerzhafte und störende Symptome verschwinden oder sich in Wohlgefühl verwandeln. In diesen Fällen hat, bei aller unflexiblen Selbstkontrolle, ein gewisser Kontakt zum Selbst überlebt.

Es gibt aber mindestens drei Gruppen von Patienten, die die langwierige archäologische Arbeit der Charakteranalyse benötigen, bevor man mit der phänomenologischen Analyse einsetzen kann. Bei diesen Menschen findet man tiefsitzende Verachtung für ihre spontane Persönlichkeit, Verleugnung dessen, "was ist", und Glorifizierung dessen "was sein sollte". Diese Menschen hängen Idealen an, und sie haben ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse so weit abgespalten, daß sie diese unter keinen Umständen wahrnehmen und auf keinen Fall als Teil ihres Selbst akzeptieren können.

Außer dieser Gruppe gibt es noch die "als ob" Persönlichkeiten, um einen Begriff zu verwenden, den Helene Deutsch geprägt hat. Diese Patienten spielen Rollen vor, und durch eine Art von Pseudo-Mitarbeit täuschen sie den Analytiker so, wie sie sich schon durch ihr ganzes Leben geschwindelt haben. Erst wenn sie merken, daß sie sich immer wie auf einer Bühne bewegen, daß sie nicht einen Charakterpanzer sondern eine ganze Schrankwand voller Kostüme haben, kommen sie mit ihrer wahren Natur in Berührung. Dieser Schritt wird gemeinhin von einem Gefühl großer Leere und von Sehnsucht nach Empfindungen begleitet. Es gibt ein Symptom, das eine "als ob" Persönlichkeit ankündigt: das Gefühl chronischer Langeweile. Wie Sie wahrscheinlich wissen, setzt Langeweile ein, wenn Ihre Aufmerksamkeit auf eine Situation gerichtet wird, an der Sie kein Interesse haben, und wenn gleichzeitig die natürliche Figur-Hintergrund-Formation block-iert ist. Die "als ob" Persönlichkeit versucht, der Langeweile mit sich steigender Sucht nach Aufregung und manchmal nach Drogen zu entkommen, anstatt sich der Figur-Hintergrund-Formation zu überlassen.

Eine andere Patientengruppe bereitet große Anfangsschwierig-keiten, das sind die eher zwanghaften. Ich beziehe mich jetzt nicht auf die gewissenhaften, systematischen, vielleicht über-systematischen, hart arbeitenden Menschen. Die sind sehr kooperativ. Aber es gibt einen weiteren zwanghaften Charakter, der hauptsächlich Angst davor hat, daß man sich lustig über ihn macht, ihn zum Narren hält. Er beschäftigt sich mit nutzlosen Ersatzhandlungen, in Gedanken wie im Leben. Er ist immer ernst, aber nie ernsthaft. Bei ihm liegt die anfängliche Schwierigkeit darin, ihm klar zu machen, daß er nur ein einziges Ziel verfolgt: nämlich heimliche Triumphe zu feiern. Er führt Anforderungen ad absurdum, streitet stundenlang herum, frustriert und zeigt seinem Therapeuten, daß der ein impotenter Esel ist, unfähig, mit einem cleveren Burschen wie ihm fertig zu werden. Aber er projiziert seinen eigenen Spott und stellt sich vor, daß andere ihn zum Narren halten wollen. Ihnen fällt nicht auf, daß er derjenige ist, der alle zum Narren halten will. Erst wenn er merkt, wie närrisch es ist, sein Leben damit zu verbringen, kann er sich mit ernsthafter Arbeit und Kooperation befassen.

Vielleicht kann man dieser Kategorie auch Patienten zuordnen, die als wertvolle Stützen der Gesellschaft ausgewiesen sind. Sie müssen immerzu ihre eigene Existenz rechtfertigen. Man weiß ja, daß ein Mann, der ständig seine sexuelle Potenz beweisen muß, sich ihrer nicht recht sicher ist. Eine ähnliche Struktur findet sich in einem Menschen, der sich seiner Existenzberechtigung nicht sicher ist. Er existiert nicht ganz und gar. Wie die drei Typisierungen, die ich vorher aufgezählt habe, ist er bis zu einem solchen Grad desensibilisiert, daß intellektuelle und soziale Ziele die ungefühlten biologischen Triebe ersetzen. Ohne seine selbst konstruierten Ziele würde er sich so leer fühlen wie die drei anderen Gruppen. Marx sagte einmal, daß die Existenz eines Phänomens seine Notwendigkeit beweise. Gäbe es die amerikanischen Neurosen nicht, würde die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten schnell aussterben. Auf gleiche Weise bezieht der französische Existentialismus seine raison d'étre aus unserem schnell dahinschmelzenden Grad an Selbstgewahrsein.

Interessanterweise wirft unser Thema auch ein Licht auf den Alkoholismus. Dieser ist nämlich ein fruchtloser Versuch, den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Selbstausdruck und der Desensibilisierung zu lösen. Das Trinken unterstützt die emotionale Entladung - und verringert dadurch die unerträgliche Spannung -, aber das Gewissen oder das Ideal und die Gefühle der Unzulänglichkeit und Gehemmtheit werden nur zeitweise gedämpft. Der Alkoholiker schafft es genauso wenig wie die anderen Neurotiker, seine Individualität der Gesellschaft unterzuordnen, er schafft es nicht, sich gesellschaftlichen Forderungen zu unterwerfen, und wird nicht zum wohlerzogenen Roboter.

Ich muß zum Ende kommen. Ich kann hier nicht auf all die unterschiedlichen Weisen eingehen, wie Menschen ihre Orien-tierungs- und Manipulationsfähigkeit abstumpfen (lassen). Ich muß die sehr interessante Verbindung zwischen Empfindungs-losigkeit bei der Nahrungsaufnahme und paranoiden Phänomenen auslassen, zwischen Retroflektion und Verdrängung, zwischen Ich-Entscheidung und Kontakt-Funktionen und vielen anderen Phänomenen, die sich mit Störungen im Prozeß des Gewahrseins befassen, aber ich kann eine grobe Skizze entwerfen, wie eine durchschnittliche Behandlung verläuft:

Im Vorfeld finden wir als Sicherungsposten des Status quo den Charakter. Wenn wir die Hauptwiderstände eben jenes Charakters durchgearbeitet haben, lernt der Patient, sich wieder selbst zu erfahren. Das wichtigste an diesem Punkt der Selbsterfahrung ist ein Höchstmaß an Bewußtheit, die Unterscheidung zwischen pathologischer Introspektion und intensiviertem Lebensgefühl. Indem er lernt, seinen eigenen Prozeß bewußt zu erleben, erfährt er sich als gespalten zwischen seinen absichtlichen und ver-drängenden und seinen spontanen und verdrängten Persönlichkeits-anteilen. Während dieser Zeit identifiziert er sich mit seinen verdrängenden Anteilen, die sich auf jede nur mögliche Weise von den inakzeptablen Teilen seiner Persönlichkeit abspalten wollen, zum Beispiel durch Muskelverspannungen. In dieser Phase sind alle seine interpersonellen Beziehungen von der Angst besetzt, er sei für seine Umnwelt unausstehlich. In der nächsten Phase muß er lernen, seine Impulse zur Selbstkontrolle, seine Selbst-vorwürfe, seine Selbstbestrafungen wieder auf seine Umgebung zu richten. Dadurch vervielfältigen sich seine Kontaktmöglichkeiten mit Freunden und Feinden. Ganz bewußt beginnt er nun damit, diese zu kontrollieren, ihnen Vorwürfe zu machen, sie zu be-strafen. Diese Richtungsumkehr macht es ihm möglich, viele Konflikte zu beenden, die durch Internalisierung zu chronischen geworden waren. Er kann nun aus Selbstvorwürfen Begegnungen machen. Wenn er sich mit all seinen Prozessen identifizieren kann, lernt er auch allmählich, seine spontane Persönlichkeit zu akzeptieren. Wenn seine inneren Konflikte verschwinden, wird er stark genug und so mit sich selbst identisch (unified) sein können, daß er seine eigenen Meinungen so wertschätzen kann, wie vorher nur die der anderen. Statt in Furcht vor Ablehnung und mit der Sehnsucht nach Angenommen-Werden zu leben, ist er es jetzt, der akzeptiert und ablehnt. Er nimmt von der Welt so viel, wie er für seine künftige Entwicklung will und braucht. Während er vor seiner Therapie Menschen in Gute oder Schlechte geteilt, und sie akzeptiert oder abgelehnt hat, unterscheidet er jetzt Situationen und Qualitäten. Er entwickelt einen eigen-ständigen Geschmack und übt Einfluß auf die Welt nun so aus, daß ein Optimum von Befriedigung möglich ist. Seine Vorsätzlichkeit verwandelt sich von autoritärer Selbstkontrolle in liberale Selbst- und Objektorganisation.

Ich hoffe, ich konnte zeigen, daß die Neurose ein lebensfeindlicher Versuch ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Neurose funktioniert nach dem biblischen Grundsatz von "Wenn Dich ein Auge stört, so reiß es aus ..." Das Resultat ist eine eingeschränkte anstelle einer ganzheitlichen Persön-lichkeit.

Durch Resensibilisierung und Remobilisierung des Systems zur Orientierung und Manipulation erreicht man die Reintegration der abgespaltenen Teile der Persönlichkeit am besten. So weit ich es überschauen kann, führt dieser Ansatz sehr weit. Wenn der Patient seine Symptome etc. prozeßhaft erleben kann, übernimmt er die Aufmerksamkeit und bewußte Kontrolle, die für seine semantische und soziale Einpassung nötig ist -, das heißt, er versteht seine persönlichen Bedürfnisse und kann seine Umgebung daraufhin beeinflussen. Diese Prozesse geschehen in der Gegen-wart und müssen deswegen auch als gegenwärtige behandelt werden; denn sie sind der Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Reorganisation der Persönlichkeit durchläuft Pro-zesse, die integrierend wirken und solche, die desintegrieren. Sie sollte so ausbalanciert werden, daß nur so viel abge-spaltenes Material frei wird, wie der Patient assimilieren kann. Sonst könnten seine sozialen oder sogar seine biologischen Grundlagen ernsthaft gefährdet werden.

Der analytische Prozeß der Desintegration trifft auf infantile und irrationale Einstellungen, auf unangemessene und rigide Versuche, der Umwelt zu begegnen, auf emotionale und semantische Blockaden. Die integrierenden Prozesse fördern die Anerkennung und Assimilation von traumatischen, introjizierten und proji-zierten Materialien, die Kontaktfunktionen und den emotional und semantisch angemessenen Ausdruck des Selbst.

Sobald der Therapeut die Struktur der Neurose durchschaut hat, sollte er seinen Therapieplan entwerfen, aber während der ganzen Behandlungsdauer wachsam und flexibel damit umgehen.

Ich möchte diesen Vortrag nicht beenden, ohne eine Gefahr zu erwähnen: zwischen den einseitigen Ansätzen, nämlich zwischen den rein psychologischen Konzepten von Korzybski, Adler und Horney, und den biologistischen Methoden der Schulen von F.M. Alexander und Elsa Gindler, zwischen der analytischen Technik Freuds und den kreativen Bemühungen, sagen wir mal, eines Musiklehrers; zwischen Reichs sexualisierter Persönlichkeit und Jungs desexualisierter Libido; inmitten aller dieser Abstrak-tionen von dem, was die vollständige Persönlichkeit ausmacht, gibt es noch genug Raum für und sogar ein Bedürfnis nach dieser und vielen anderen Vorgehensweisen. Eine weitere Gefahr, die ich sehe, ist die des Elektizismus. Statt einen umfassenden und unitaristischen Standpunkt (Unitary point of view) einzunehmen und aus diesem Zentrum zu agieren, springt man möglicherweise von Methode zu Methode, verbreitet Verwirrung und produziert nur einen weiteren Typ von gespaltener Persönlichkeit.

Das Konzept und die Erfahrung, daß die menschliche Persön-lichkeit ein unteilbares Ganzes und immer in die Umgebung eines persönlichen und sozialen Feldes eingebettet ist, bietet Schutz gegen diese Gefahr. Da Ihr Institut auf diesem Konzept aufbaut, ist die Gefahr, einem solchen Elektizismus nachzugeben, gering. Im Gegenteil, wenn ich einen Vorschlag machen darf, dann empfehle ich Ihnen als notwendig komplementären Aspekt zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit das Studium von zumindest drei Theorieansätzen: Gestaltpsychologie, Semantik und last not least das Konzept der Gindler Schule. Fritz hatte damals gerade Charlotte Selver kennengelernt und arbeitete mit ihr zusammen. Ich hatte etwas Gindler-Arbeit in Berlin und vorher und auch später jahrelang ähnliche Körperarbeit gemacht. Fritz war damals noch zu sehr Analytiker und eigentlich gar nicht an Körperarbeit interessiert.

Schließlich will ich noch einige persönliche Bemerkungen an-schließen: Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, meinen Standpunkt hier darzulegen.

Nachdem ich jahrelang in Afrika alleine mit den Freudschen Ideen gekämpft hatte Fritz hatte nicht "ganz alleine gekämpft". Nicht nur mit mir sondern einer kleinen Studiengruppe zusammen besprachen wir damals in unserer Zeit in Südafrika alle anliegenden Probleme., bin ich zu dem folgenden Ergebnis gelangt: Obwohl Freud der Livingstone des Unbewußten war, war die Landkarte, die er gezeichnet hatte, bereits veraltet. Sie funktionierte nicht mehr als Wegweiser, als Orientierungshilfe, sie mußte neu entworfen werden. Ich war überzeugt, daß ich einige wichtige Orientierungspunke entdeckt hatte, aber viele weiße Flecken - zum Beispiel was Bewußtheit (Awareness) ausmacht - waren geblieben. Ich bin schließlich an den Punkt gekommen, wo ich einige meiner Eintragungen in der Karte überprüfen und wo ich vielleicht auch einige der weißen Flecken ausfüllen kann. Da die USA sich zum Zentrum der Wissenschaft entwickelt hat, lag es für mich auf der Hand, daß ich hierher kommen wollte. In Südafrika galt ich als größenwahnsinnig, weil ich es gewagt hatte, den Worten des Meisters zu widersprechen, in Kanada wurde ich für einen Dummkopf gehalten, weil ich den sakrosankten Reflexbogen anzweifelte, in New Haven wurde ich für vogelfrei erklärt, weil ich Psychotherapie ohne medizinische Erlaubnis ausüben wollte und, was schlimmer war, weil ich keiner festen Gruppe angehörte, in New York nun eigentlich als wahnsinnig, weil ich eine gesicherte ökonomische Position aufgegeben hatte. Irgend etwas muß an mir doch nicht ganz richtig sein, oder vielleicht treiben mich ja höhere, andere Beweggründe. Natürlich kann ich nicht die Wurzeln einer Glaubensrichtung attackieren und gleichzeitig auch erwarten, von ihr akzeptiert zu werden, aber ich weiß, daß ich nicht einfach destruktiv, sondern konstruktiv bin und auch etwas zu sagen habe. Lag ich vollkommen falsch oder waren alle anderen blind? Dann geschah ein Wunder. Vor ein paar Monaten traf ich ein paar Mitglieder Ihrer Gruppe, und ich war wie selten in meinem Leben tief bewegt. Tatsächlich gab es offenbar ein paar Menschen auf dieser Erde, die die Welt so sahen wie ich, deren Sprache meiner ähnlich war. Es war wie ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Ich kam mir vor wie ein Seemann, der wußte, daß er auf dem richtigen Kurs ist, aber daran zweifelte, ob er je wieder Land sehen würde, und ganz plötzlich und unerwartet lag es vor ihm. Aber das ist ja nicht alles, dabei darf man nicht stehenbleiben. Die große Welle der menschlichen Desintegration, kommt auf uns zu, der Selbstmord der Menschheit. Deiche müssen erbaut werden. Können wir das zusammen angehen? Könnte die Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht zu spät ist, zur Möglichkeit werden?

Freud fing damit an, den Neurotiker als den Ausnahmefall einer gesunden Umgebung zu betrachten. Ich glaube jedoch, daß inzwischen die Neurose ein umfassendes soziales Problem geworden ist. Deswegen heißt die Frage, die ich Ihnen stellen will: ist die Zeit reif dafür, daß wir diese soziale Krankheit in einem größeren Rahmen sehen können, anstatt weiterhin Stückwerk zu leisten, womit wir uns bisher beschäftigt haben? Kann oder soll man Psychotherapie in einer anderen Größenordnung planen? Ich persönlich zweifle daran, daß Gesellschaft und Regierung bereit dazu sind, das ganze bedrohliche Ausmaß des Problems zu sehen, aber ich habe auch den Eindruck, daß sie für die Existenz des Problems nicht mehr ganz unempfindlich sind.

Freud sah nur das Unbehagen an unserer Kultur. Spengler sah den Untergang des Abendlandes. Wir sind im Moment Zeuge des Auseinanderfallens von Europa, aber wir sind auch Zeugen von etwas ganz anderem. Früher konnte eine Kultur ihren Lauf beenden und verschwinden, und es gab genug Platz auf der Erde für zukünftige Kulturen. Aber die Welt ist geschrumpft, alle Nationen werden in die Einflußsphäre des europäisch-amerika-nischen Kulturkreises einbezogen. So heißt das Ende dieser Kultur das endgültige Ende. Eine schizophrene Weltuntergangs-phantasie scheint Wirklichkeit zu werden. Es war nicht ein Wissenschaftler, sondern ein Dichter, der das zuerst sah:

D.H. Lawrence schreibtIn Lady Chatterley's Lover (Penguin 1961, p. 226) Perls nennt weder den Text, aus dem er zitiert, noch zitiert er genau. Möglicherweise lag ihm 1947 eine "gereinigte Fassung" vor, denn er tilgt das Adjektiv halfballed. Die andere Veränderung ist allerdings unverfänglich, betrifft ein Verb und bezieht sich auf den Regen. Der Kontext des Zitats ist politischer, als er sich hier vielleicht anhört: die Tommys sind die einfachen englischen Soldaten im Gegensatz zu den Offizieren der Oberschicht, beides Engländer und nicht im Kontrast zu anderen Nationalitäten. (in: Lady Chatterley's Liebhaber): "... Connie lachte. Es regnete in Strömen. 'Er haßte sie!'

'Nein' sagte er. Sie waren ihm gleichgültig. Er mochte sie einfach nicht. Das ist ein Unterschied. 'Weil die Tommys', so sagte er, 'genauso verklemmt und engherzig werden. Den Weg wird die ganze Menschheit gehen.'"

(Aus dem Amerikanischen von Christiane Schmitt und der Redaktion Gestaltherapie)

Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie e.V. (DVG)

Herausgeber

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Koordination und Endlektorat: Martina Gremmler-Fuhr

Assoziierte Redaktionsmitglieder: Peter Rumpler (Österreich), Urs Isenegger (Schweiz)

Erscheinungsweise und Abonement

Die Zeitschrift erscheint zweimal im Jahr. Der Abonnementpreis beträgt DM 38,- zuzüglich Versandkosten. Einzelheft DM 22,- zuzüglich Versandkosten. Mitglieder der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie e.V. (DVG) erhalten die Zeitschrift im Rahmen ihres Jahresbeitrags kostenlos übersandt. Bestellungen richten Sie bitte an den Verlag. Abbestellungen sind nur zum Jahresende unter Einhaltung einer dreimonatigen Frist möglich.

Alle Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Nachdrucke nur mit schriftlicher Genehmigung und ausführlicher Quellenangabe zulässig. Mit Verfassernamen veröffentlichte Beiträge decken sich nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion.

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Redaktionsschluß ist jeweils der 2. Januar und 1. Juni

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Friedrich S. Perls

PLANVOLLE PSYCHOTHERAPIE

(herausgegeben von Laura Perls)

Meine Damen und Herren, wir wissen nur allzu gut, daß wir in eine Zeit vielfältiger Widersprüche hineingeboren wurden.

Bis ins 18. Jahrhundert war eine geistige, eine spirituelle Vorstellung von der Welt von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Selbstverständlichkeit. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann die materialistische Sicht in der Wissenschaft und in der Vorstellungswelt vieler Menschen durch. An die Stelle der emotionalen Geborgenheit einer religiösen Weltsicht trat die intellektuelle Befriedigung, der Rationalismus, die Vorhersagbarkeit und Sicherheit, soweit quantitatives Vorgehen sie bieten konnten. Die Wissenschaft errang mit ihrer analytischen Methode einen Triumph nach dem anderen, sie zerlegte die Welt in Teilchen und arithmetische Zahlen, aber Versuche zur Synthese gingen über die Gründung des Völkerbundes und die Erfindung einiger chemischer Ersatzprodukte nicht weit hinaus.

Wir leiden vielleicht mehr als je zuvor in der Geschichte an Zweifeln und Widersprüchen, am Dualismus von Körper und Seele, Geist und Materie, Theismus und Materialismus. Selbst die fortschrittlichste psychiatrische Terminologie spricht von einer psychosomatischen Medizin, so als ob es Psyche getrennt von Soma gäbe. Im allgemeinen haben wir noch nicht gelernt, solche Dualismen als Dualitäten anstatt als Widersprüche zu betrachten. Anstelle einer integrierten Vorstellung betrachten wir die Welt eher mit einer Mischung aus Materialismus und Spiritualismus.

Unser mechanistisches Zeitalter hat die Vorstellung aufgegeben, daß die Seele etwas sei, was bei der Geburt in den Körper einströmt und ihn beim Tod oder in mystischen Ausnahmesitutationen wieder verläßt. Seele und Geist sind heutzutage zu Ausscheidungen des Hirns und einiger Hormondrüsen geworden, und ein paar Theorien, darunter die Assoziationstheorie und die Theorie vom Reflexbogen, befriedigen das Bedürfnis nach mechanistischen Vorstellungen, auch wenn sie sich widersprechen. Das Hirn und das Rückgrat werden in Abschnitte und Teilstücke zerlegt, aber niemand kann sie wieder integrieren - und ganz ähnlich verfährt man mit der sogenannten Psyche.

Die drei folgenden Hauptkonzepte charakterisieren die mechanistischen Vorstellungen in der Psychologie:

- Die Psyche ist identisch mit dem Bewußtsein.

- Der Geist besteht aus zusammengesetzten Teilchen, seine Funktionen werden vom Assoziationsgesetz diktiert.

- Wahrnehmung und Handlung bedingen sich gegenseitig durch die neuronalen Verbindungen des Reflexbogens.

Freud bewies, daß die erste dieser Theorien nicht stimmt, was die meisten Wissenschaftler heute akzeptieren.

Die Gestaltpsychologie ersetzt allmählich die zweite Theorie. Auch wenn die Gestalttheorie als Ganzes noch nicht voll akzeptiert wird, sind einige ihrer Grundkonzepte, besonders die von der Vorstellung des Organismus als einer Einheit, der mit einem einheitlichen Zweck reagiert, weitgehend rezipiert worden.1 Das entspricht eher Kurt Goldsteins organismischer Theorie und seiner speziellen Anwendung der Gestalttheorie, als daß es Bestandteil der damaligen Gestaltpsychologie gewesen wäre.

Die dritte Theorie, die vom Reflexbogen, hat sich als äußerst nützlich für die Neurologie herausgestellt. Sie ist so weitgehend als Denkmuster übernommen worden, daß geringste Zweifel an ihrer Richtigkeit die Feindseligkeit und den Spott hervorrufen, den Freud erfuhr, als er seine revolutionären Ideen zum ersten Mal veröffentlichte.

Ich will hier heute abend in keine Diskussion darüber einsteigen, aber ich will betonen, daß ich zum Beispiel nicht daran glaube, daß Lichtstrahlen auf mechanische Weise ins Hirn wandern und dort eine Handlung in Gang setzen. Ich folge lieber Professor Kurt Goldstein in der Annahme, daß das senso-motorische System aus zwei Systemen besteht, nämlich einem sensorischen System und einem motorischen System. Persönlich möchte ich hinzufügen, daß diese zwei Systeme, obwohl eng ineinander verwoben, die organischen Aspekte von Orientierung und Manipulation sind. Sowohl die Orientierung - d. h. der sensorische Apparat - als auch die Manipulation - d. h. das motorische Instrumentarium - richten sich vom Organismus auf die Umwelt, und der eine führt nicht in den Organismus hinein und der andere nicht aus dem Organismus heraus. Wenn Sie sich die Fühler eines Insektes vorstellen, oder ein Baby, das seine Primärerfahrungen mit dem Mund macht, oder einen Blinden mit seinem Blindenstock oder seinem Blindenhund, dann bekommen Sie eine erste Ahnung davon, wie die Argumente gegen die Theorie vom Reflexbogen aussehen. Wenn man die sinnlichen Erfahrungen wieder den Sinnen zuordnet, dann sind auch die philosophischen, semantischen, theoretischen und anderen Mittel der Orientierung leicht in ein einheitliches Konzept der menschlichen Persönlichkeit einzuordnen.

Die integrative Funktion des menschlichen Nervensystems führt schließlich zu einem spezifischen Blick auf die Welt, einer Weltanschauung. Eine solche Sicht der Welt ist die Blaupause, der Grundlagenentwurf für unsere Handlungen. Solange also unsere Vorstellung von der Welt magisch ist, ist auch Psychotherapie ein magischer Ritus. Das ist z. B. bei der Christlichen Wissenschaft so. Ein moralistisches Weltbild sucht die Lösung in der Ausrottung. Eine mechanistische Vorstellung von der Welt wird versuchen, innere Konflikte mit Beruhigungsmitteln und geistige Verwirrung mit dem Skalpell anzugehen. Die rein psychologischen Schulen werden versuchen, Komplexe und Widersprüchlichkeiten zu beseitigen, die Sexualtherapeuten wollen die Funktionen des Orgasmus wiederherstellen.

In einer Hinsicht jedoch scheint sich eine Verständigung der verschiedenen Schulen zumindest in der Theorie allmählich herauszuschälen, nämlich in der Annahme, daß der Neurotiker (und auf ihn will ich mich hier beschränken) eine gespaltene und dissoziierte Persönlichkeit ist und daß die Heilung durch eine Reintegration der Persönlichkeit und ihrer intrapersonalen Beziehungen erfolgt.

Trotz dieser hypothetischen Übereinstimmung sind die daraus folgenden praktischen Konsequenzen sehr eingeschränkt, wie ständige Feindseligkeiten und Polemiken - oder um Freuds Terminologie zu benutzen, die gegenseitigen negativen Übertragungen zeigen.

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Psychotherapeuten nur in wenigen Ausnahmefällen einen Grad von Integration erreichen, der es ihnen erlaubt, Dissoziationen innerhalb ihrer selbst und in anderen zu sehen und damit fertig zu werden, und es gibt auch gute Gründe, weshalb eine solche Integration für den Einzelnen wie für die psychotherapeutische Bewegung insgesamt schwer zu erreichen ist.

Da gibt es zunächst sprachliche Schwierigkeiten. Obwohl die Sprache das Basiswerkzeug des Psychotherapeuten ist2 Die Sprache ist das Basiswerkzeug des Psychoanalytikers. Der Gestalttherapeut kann natürlich viele andere Modalitäten einsetzen., setzen wir vielfach voraus, daß wir die gleichen Wörter mit den gleichen Bedeutungen benutzen wie die Person, mit der wir zu tun haben, oder wir erachten es als ausreichend, dem anderen unsere Bedeutung in der Erwartung zu erklären, daß der bloße Akt der Definition tief verankerte Denkgewohnheiten auflöst.

Wenn wir annehmen, und dies scheint erstmal die einfachste Theorie zu sein, daß die moderne amerikanische und europäische Persönlichkeit in absichtliche und in spontane Funktionen gespalten ist, dann können wir Neurosen als das Ergebnis eines nicht gelungenen Kompromisses zwischen diesen beiden Funktionen beschreiben. Als dualistische Persönlichkeit hat das moderne Individuum auch eine dualistische Geisteshaltung und eine dualistische Sprache. Wir denken in den Gegensätzen von Psyche und Soma, Gut und Böse, Überich und Es, Geist und Natur, Eros und Thanatos, Individuum und Gesellschaft. Nein, bisher haben wir es noch nicht geschafft, uns einer Sprache der Einheit, einer integrierten Sprache zu bedienen. Wir sehen Dualismen, wo es nur Dualitäten gibt oder die zwei Hälften eines Ganzen oder, wie im Falle der menschlichen Persönlichkeit, sehen wir den Körper oder den Geist oder das Unbewußte, wo wir nur die verschiedenen Aspekte eines einzigen Organismus vor uns haben. Wir haben einen Körper, wir sind es nicht, wir haben Gedanken und Überlegungen, anstatt die Denkenden oder Überlegenden zu sein.

Wie wir alle wissen, ist dieses Verleugnen der eigenen Anteile besonders bei zwanghaften Persönlichkeiten deutlich zu beobachten, aber davon findet sich auch in unser aller Geisteshaltung einiges, denn nach den Jahrtausenden dissoziierter Existenz und Geisteshaltung können wir die Uhren nicht auf Heraklits Zeit zurückstellen.3 Anmerkung der Übersetzerin: die anachronistische Metapher ist die des Autors.* Wir müssen uns neue sprachliche Werkzeuge schaffen, die unserer kulturellen Situation angemessen sind, wenn wir darauf hoffen wollen, die Dissoziationen des homo sapiens zu überwinden, wenn wir darauf hoffen wollen, daß er es wert ist zu überleben.

Außer auf sprachliche Schwierigkeiten treffen wir auch auf philosophische, nämlich auf unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Integration heißt. Manchmal ist es der Charakter, der der Integrtion bedarf, manchmal sind es die intra-personellen Beziehungen, manchmal die Triebe und in den meisten Fällen das Bewußte und das Unbewußte. Oft strebt man eine Kombination mehrerer Aspekte an, aber nur ganz selten nimmt man eine wirklich umfassende Integration in den Blick und arbeitet damit.

Die dritte Frage, die sich stellt, ist die soziologische. Können wir den Teufelskreis durchbrechen, in dem wir uns als Kulturmenschen befinden? Kann eine wirklich integrierte Persönlichkeit in einer dissoziierten Gesellschaft funktionieren? Wenn wir als Ziel der Psychotherapie die Anpassung an die Umwelt ins Auge fassen, und Sicherheit so wichtig dafür ist, müssen wir dann nicht erwarten, daß die "Integrierte Persönlichkeit" (Unitary personality) als ein seltsames Phänomen viel Feindseligkeit erfahren muß, und daß sie genau die Sicherheit zu verlieren droht, die ihr eine konformistische Einstellung geben könnte? Ich glaube, wir können diese Frage jetzt nicht beantworten. Aber das aufsprießende Interesse an Fragen der Psychiatrie in den USA zeigt, daß neurotische Verhaltensweisen deutlich ins Bewußtsein getreten sind und daß die kollektive Einsicht wächst, daß etwas faul ist im Staate Dänemark. Ganzheitliche Konzepte sind im Kommen, und wenn bereits Menschen in Leitungspositionen wie General Chisholm darauf hinweisen, daß das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, dann kann der Teufelskreis vielleicht doch durchbrochen werden. Bis es soweit ist, können wir es uns nur zur Aufgabe machen, diese integrierten Persönlichkeiten, die bereit sind, aufrichtig und in freier Spontaneität Gefahr und Unsicherheit auf sich zu nehmen, hervorzubringen. Aus dem, was ich bisher gesagt habe, ist hoffentlich klar geworden, daß bewußtes wie unbewußtes Planen jeder Behandlung von der Weltanschauung des Therapeuten geprägt ist. Vielleicht kann man zwei Gruppen unterscheiden: die eine durchkreuzt die biologische Figur-Hintergrund-Bildung, die andere unterstützt sie. Die erste verringert Bewußtwerdung und Selbstausdruck, die andere fördert sie. Die eine fördert absichtsvolles Handeln, die andere spontanes. Ein Mann, der an sexueller Impotenz litt, ging zu Coue4 Coué: 1857-1926. Frz. Apotheker. Entwickelte eine Form der auto-suggestiven Psychotherapie (d.Ü.) ... das ist ein typisches Beispiel für die erste Gruppe. Es unterscheidet sich nicht von Ärzten, die Beruhigungsmittel gegen Schlaflosigkeit verschreiben. Der Arzt versteht nicht, daß die Schlaflosigkeit der Versuch des Organismus ist, mit unerledigten Problemen fertig zu werden, mit unausgedrückten Emotionen und anderen ungelösten Situationen. Er verhindert, daß das Problem wirklich sichtbar wird, indem er Schlaftabletten verschreibt, die ein wirksames Mittel sind, Bewußtwerdung zu verhindern, und perpetuiert so eine Situation, mit der der Organismus in seiner unendlichen Weisheit fertig zu werden versucht.

Die zweite Gruppe, zu der Sie und ich gehören, unterstützt den natürlichen Prozeß der Figur- Hintergrund-Bildung. Denjenigen unter Ihnen, die darauf konditioniert sind, sich vorzustellen, daß der Organismus aus vielen Einzelteilen, etwa den Assoziationen, zusammengesetzt ist, mag der Ansatz der Gestaltpsychologie Schwierigkeiten bereiten. Ich will deshalb in aller Kürze das Verhältnis von Figur-Hintergrund-Bildung zu den Systemen von Orientierung und Manipulation zu Dissoziation und Psychotherapie erklären.

Ich will mit meinem Lieblingsbeispiel beginnen. Ein Soldat macht Dienst in der Wüste, nach Tagen des mühsamen Marschierens unter der sengenden Sonne kehrt er ins Lager zurück. Sein erstes Wort ist "Wasser", oder er geht selbst zum Brunnen, falls er noch die Kraft dazu hat. Eine Stunde später stellt er zu seinem Erstaunen fest, daß sein bester Freund beleidigt ist, weil er ihm nicht zu seiner Beförderung gratuliert hat. Der Freund hatte ihm nämlich direkt bei seiner Rückkehr ins Lager aufgeregt davon erzählt.

Unser Soldat hat während seines Marsches durch die Wüste eine beträchtliche Menge Wasser verloren - der Physiologe würde sagen, er ist dehydriert - sein organismisches Gleichgewicht ist solange gestört, bis er wieder eine ausreichende Menge dieser Flüssigkeit zu sich genommen hat. Seine sensorischen Wahrnehmungsmöglichkeiten versorgen ihn mit einer zweifachen Orientierung, einer inneren - nämlich der Wahrnehmung von Durst und dem Gefühl des Verlangens - und mit einer äußeren. Die Welt um ihn herum wird vollkommen unwichtig bis auf alles, was er mit seinem Durstgefühl in Beziehung setzen kann. Nur ein Bächlein oder eine Flasche Bier oder so etwas Ähnliches existiert für ihn, d. h. ruft sein Interesse hervor, wird zur Figur, alles übrige zu verschwommenem Hintergrund. Die enthusiastischen Bemerkungen seines Freundes existierten für ihn nicht, er hörte sie in der Tat so wenig wie wir das Ticken einer Uhr hören, das wir durchaus wahrnahmen, bevor wir uns in ein Buch vertieften. Der Freund war so sehr in den Hintergrund getreten, daß er gar nicht für ihn da war. Unser Soldat hat die Welt bei seiner Rückkehr so für sich eingerichtet, daß sie seinen Wünschen entsprach. Er läuft entweder zum Brunnen und stillt so sein Bedürfnis, oder er teilt seine Bedürfnisse durch Gesten oder Worte mit. Ist seine organismische Balance jedoch wiederhergestellt, dann ist sein Interesse frei für andere Aktivitäten und die Beförderung seines Freundes kann zur Figur werden, das heißt, sie kann zur Realität werden, kann existent werden.

In Ihrer Kamera haben Sie einen Sucher. Dieser Sucher erleichtert das Fotografieren im Vergleich zu der alten und umständlichen direkten Beobachtung durch die trübe Glasscheibe erheblich. Der menschliche Organismus hat ein vergleichbares System zur Verfügung, er hat das, was wir den Verstand nennen oder vielleicht besser gesagt, er hat verschiedene Verstandesebenen (strata of minds), von denen die senso-motorische wahrscheinlich die primitivste ist. Wenn wir keine Umgebung vorfinden, die nach der Figur-Hintergrund-Funktion zur Wirklichkeit werden kann, dann visualisieren wir sie in Tagträumen, nächtlichen Träumen, oder wir halluzinieren sogar die Situation, die für die Befriedigung unserer Bedürfnisse nötig ist.

Offensichtlich paßt in dieser Situation der Freudsche Begriff des Wunschdenkens. Aber die später entwickelten mentalen Systeme der semantischen Einschätzung und der höheren Abstraktion stellen uns ein noch besseres Mittel der Orientierung zur Verfügung als der senso-motorische Apparat, der eher ein - wenn auch oft wertvoller - Indikator für unsere konkreten Bedürfnisse ist. Dieses höhere Verstandessystem, das viele der Funktionen einschließt, die gemeinhin als Denken bekannt sind, kombiniert Orientierung und Manipulation in winzigen Dosen. Es wählt aus, verwirft, kombiniert, es erinnert frühere Erfahrungen, kurz, es tut all das, was Ihnen in Ihrer Ausbildung als eine Funktion des Traumes beschrieben wurde. Es versucht, ungelöste Situationen zu lösen.

Ich nenne diesen Prozeß Instinktzyklus. Der Begriff verweist auf eine Ursache und eine Absicht. Die Ursache ist eine Störung - z. B. Dehydration - die das organismische Gleichgewicht stört, und die Absicht ist die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes. Was Ursache und angestrebtes Ziel verbindet, sind die Figur-Hintergrund-Formation, Spannungen oder Triebe - in unserem Beispiel von oben Durst - Intelligenz, Leistungsfähigkeit und Charakter. Intelligenz ist dann das angemessene Funktionieren des Orientierungssystems, Leistung das des motorischen Systems. Zusammen ergeben sie das Verhaltensmuster, das schließlich als Charakter5 Fritz hat hier anscheinend Reichs Definition von Charakter als Muskelpanzerung vergessen. In der Terminologie der Gestalttherapie ist Charakter eine fixierte Gestalt, die zu einer Blockierung des fortlaufenden Prozesses von Assimilation und Integration geworden ist. und Persönlichkeit integriert wird.

Ich habe die Arbeit des Organismus beschrieben, als sei sie letztlich spontan und biete wenig Raum für bewußte Handlungen - zum Beispiel für so etwas wie Planung. Es muß hier betont werden, daß die bewußten Handlungen zu diesem Zeitpunkt harmonisch im Dienste des Organismus stehen, sie erweitern seine Überlebensfähigkeit, statt sie zu stören.

Das Bild verändert sich durch die ständige Akkulturation. Herrscher, privilegierte Klassen und andere soziale Faktoren führen Tabus ein und erteilen Befehle. Die Moral besteigt den Thron, die Willenskraft wird glorifiziert, und intentionale Handlungen werden verlangt. Aber diese bewußten Aktivitäten sind letztlich oft ein "Nein" zu vielen Instinktzyklen, sie untergraben die biologischen Grundlagen des Menschen, degenerieren ihn und bringen schließlich den Prozeß hervor, von dem wir das zweifelhafte Vergnügen haben, ihn beobachten zu dürfen, nämlich die rapide Gefährdung der menschlichen Überlebenschancen. Das sieht man nur allzu deutlich an den schnell ansteigenden Zahlen von Geisteskrankheiten und psychosomatischen Erkrankungen und auch an der weitverbreiteten Sehnsucht nach besseren Versicherungsmöglich-keiten - dem Ruf nach immer mehr Sicherheit. Was können wir bei diesen trüben Aussichten tun? Können wir aus dem Teufelskreis aussteigen oder ihn gar anhalten?

Das man in den USA so sehr auf die Psychiatrie setzt, birgt zugleich Hoffnung und Gefahr. Die Analyse, die viele Jahre dauert, ist in dieser Notsituation ein großer Luxus, und Kurzzeittherapien ermöglichen nicht die Entwicklung der integrierten Persönlichkeit, die allein das Überleben der Menschheit garantieren kann.

Die amerikanische Regierung beginnt, wenn auch bisher eher chaotisch, einen Kampf gegen Persönlichkeitsstörungen, und so weit es Erziehung und Gruppentherapie betrifft, wird bereits Sinnvolles für die geistige Gesundheit geleistet. Aber wie steht es mit den Behandlungsmöglichkeiten?

Wie viele andere habe auch ich versucht, die Behandlungsdauer der Psychoanalyse zu verkürzen, war mir aber die ganze Zeit dessen bewußt, daß ich nicht Gründlichkeit opfern, sondern Effizienz vergrößern müßte. Durch meine eigene Erfahrung mit den Freudianern und in vielen vergeudeten Jahren habe ich gelernt, manchen Fehler zu vermeiden. Aber das reichte nicht. Ich betrachtete die klassische Analyse wie wir heute die ersten ungeschickten elektrischen Maschinen sehen, und fand dann, daß man sie - wenn ich mir den amerikanischen Ausdruck erlauben darf - stromlinienförmiger anlegen könnte. Die Gestaltpsychologie und der Trend zur Semantik waren mir Orientierungshilfen. Schließlich stieß ich auf eine lächerlich einfach Theorie: wenn der Neurotiker eine dissoziierte Persönlichkeit ist, dann muß man nur all die dissoziierten Teile der Persönlichkeit wieder einsammeln und sie reintegrieren. Wegen ihrer Verschwommenheit und Widersprüchlichkeit mußte ich die Libidotheorie aufgeben, ihre Klebrigkeit konnte ich auch nicht dazu benutzen, die dissoziierten Anteile der Persönlichkeit wieder zusammenzuleimen. So überließ ich sie dem Todestrieb, verabschiedete mich von meiner Verehrung für die Götter Eros und Thanatos und versuchte, neue Wege zu finden. Der Mensch ist mit der Natur verbunden und unterliegt deswegen auch den Naturgesetzen. Die moderne Physik hat entdeckt, daß es keine isolierten physikalischen Kräfte gibt, sondern daß diese Kräfte Funktionen der Materie sind. Deswegen suchte ich nach Funktionen, nicht nach Kräften. Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Integration, so stellte sich heraus, ist weitgehend eine Sache der Assimilation und des Kontaktes, Aggression ist eine Funktion des Umgangs mit der Umwelt, besonders wenn sie im Dienste der Nahrungsaufnahme steht. Symptome, Erinnerungen und Gewohnheiten sind biologische Prozesse. Mit dieser neuen Sichtweise habe ich auch für mich selber an Integration gewonnen. Von da an ging es bergauf. Sich integriert zu wissen, eine Unitary personality zu sein, ist großartig, denn: Integration fördert die ihr eigene Entwicklung, genauso wie Spaltung die persönliche Entwicklung hemmt oder gar rückgängig macht.

Diese neuen Einsichten liefern uns auch klare Hinweise darauf, wann eine psychoanalytische Behandlung zu beenden ist. Sobald ein Patient auf dem Weg zur Integration so weit gekommen ist, daß das bisher gewonnene Maß an Integration die Entwickung unterstützt, können wir ihn ganz sicher alleine weitergehen lassen. Vielleicht können wir dieses Kriterium auch in der Kindererziehung fruchtbar machen und vorsichtig formulieren: ein Kind will keine Zuneigung, es verabscheut sie sogar, wenn es davon erstickt wird. Das Kind will Unterstützung, und das bedeutet: Gelegenheit und Hilfe bei seiner Entwicklung.

Jetzt erwarten Sie vielleicht, daß ich weiter erkläre, wie meine Sicht der menschlichen Persönlichkeit sich von anderen psychoanalytischen Konzepten unterscheidet. Da muß ich Sie leider enttäuschen. Eine detaillierte Darstellung - die über das hinausgeht, was ich bisher gesagt habe, würde viele Stunden dauern, und ich fürchte, ich habe Ihre Geduld schon über Gebühr in Anspruch genommen. Allerdings würde ich gerne noch etwas zu den praktischen Anwendungen meiner Überlegungen sagen.

Ganz simpel ausgedrückt: meine Methode besteht aus Ansporn und Nachfrage. Ich erlege meinen Patienten Übungen auf, die der Art und Weise und der Schwere ihrer Spaltung entsprechen und die ihrer Integration dienen. Ich weiß sehr wohl, daß sie oft nicht dazu in der Lage sind, diese Übungen effektiv zu machen, deswegen untersuchen und analysieren wir Stückchen für Stückchen die Schwierigkeiten und Widerstände, die sie dabei erfahren.

Was meine Therapieplanung betrifft, so unterscheide ich mich nicht sehr von anderen Psychotherapeuten. Wenn ein Freudianer denkt, daß die Neurose Ergebnis einer kindlichen Amnesie ist, dann wird sein Plan darauf hinauslaufen, die ganze Kindheit ins Bewußtsein zu heben, und dieses Ziel verfolgt er mit seinem Handwerkszeug der freien Dissoziation und der Gedankenflucht.

Ein anderer sucht Widersprüchlichkeiten in der Charakerbildung, vergißt dabei die biologischen Grundlagen und behandelt den Charakter, als sei er abgetrennt vom Organismus als Ganzem, ähnlich vielleicht wie in religiösen Vorstellungen die Seele. Ein Adlerianer pumpt systematisch Selbstbewußtsein in seinen Patienten hinein und hebt damit dessen Selbstvertrauen. Wenn er an Einflüsse von außen glaubt, arbeitet er mit Suggestionen, wenn das Problem im Orgonon liegt, befreit er vegetative Energien mit dem Ziel des perfekten Orgasmus. Wenn semantische Blockaden der Sündenbock sind, dann benutzt er das strukturelle Differential zur Heilung.

Ich glaube, daß mein Konzept, weil es den Organismus als Ganzen betrachtet, umfassender und deshalb auch im Ganzen erfolgreicher ist, als die genannten Methoden, und mit Ausnahme der Ansätze von Reich und Korzybski ist mein Konzept auch methodischer. Da ich in meiner Theorie davon ausgehe, daß die grundsätzlichen menschlichen Funktionen die Orientierung und die Manipulation sind, dient jeder Eingriff in den biologischen Instinktzyklus der Aufrechterhaltung der für den Patienten spezifischen Spaltung, und zwar dadurch, daß er Bewußtwerdung verringert oder den freien Gebrauch des motorischen Systems behindert. Unsere Patienten sind desensibilisiert oder unbeholfen oder beides zugleich. Die Tatsache, daß man mit Psychotherapie überhaupt irgend ein Ergebnis erreichen kann, wird mit einem sehr wichtigen Faktor erklärt: man liest oft von Triebunterdrückung. Diese Annahme ist falsch. Triebe können wahrscheinlich überhaupt nicht unterdrückt werden. Das würde nämlich eine völlig veränderte körperliche Verfassung bedingen. Was unterdrückt werden kann, ist ihr Ausdruck und ihre Befriedigung. Die Figur-Hintergrund-Formation kann man durcheinanderbringen, wenn man seine Aufmerksamkeit absichtlich auf etwas anderes richtet. Man kann auch die Bewußtwerdung eines Bedürfnisses zum Beispiel durch Amnesie, Skotomisierung (Einschränkung des Gesichtsfeldes), Frigidität, semantische Blockaden und so weiter ausblenden und ihren Ausdruck und ihre Befriedigung verhindern durch sprachliche oder motorische Blockaden, etwa Lähmungen oder (öfter) Muskel- verkrampfungen.

Um diese pathologischen Störungen aufzulösen, verlasse ich mich auf die detaillierten Beschreibungen des Patienten von dem, was er wahrnimmt, und auf meine eigene Beobachtung, und ich versuche, so wenig wie möglich zu Konstruktionen oder Vermutungen - Interpretationen zum Beispiel - zu greifen, und ich bleibe so nahe wie möglich an der Realität der Situation in der Therapiesitzung.

Laut Freud erlaubt das Realitätsprinzip eine vernünftige Anpassung an die Gesellschaft. Besonders von Mitgliedern dieser Gruppe wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß Freud eine zu rigide Ansicht von der Gesellschaft im Allgemeinen hatte und den Unterschiedlichkeiten der individuellen Umwelten im Besonderen zu wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Für mich ist die Realität die Gegenwart. Die Vergangenheit existiert nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Während Freud zu viel Wert auf Ursachen und Vergangenheit legt, betont Adler zu sehr die Zielausrichtung und die Beschäftigung mit der Zukunft, und beide verpassen sie dabei die Balance der Gegenwart. Vor etwa einem Monat machte ich eine schockierende Erfahrung. Nach Jahren der psychoanalytischen Behandlung, zuerst bei einem der führenden Vertreter der klassischen Schule, später bei einem anderen, kam eine Dame in einem ziemlich schlechten Zustand zu mir. Während sie davon erzählte, zuckte sie zweimal zusammen, als erschrecke sie sich ganz fürchterlich. Beides mal geschah das, als sie sich traute, Zweifel anzumelden. Ich fragte sie, was ihr Analytiker zu diesen Zuckungen gesagt hätte. Sie antwortete: "Er hat sie nie bemerkt." Hätte ich diese beiden Analytiker über ihr Vorgehen befragt, würden sie natürlich beide behaupten, daß sie von Gegenwärtigem ausgingen. Vielleicht tun sie es ja sogar. Auch wenn ich nur einen einzigen Krümel zum Frühstück zu mir nehme, kann ich behaupten, daß ich etwas gegessen hätte. Übrigens, sie erholt sich gut von ihrer Psychoanalyse. Als ersten Schritt auf dem Weg zur Integration unterstütze ich alles, was der Wahrnehmung dessen dient, was ist: die Erfahrung des Selbst und der Welt. Der Neurotiker hat zu wenig Kontakt mit der Realität. Außer, daß er die Gesellschaft anderer meidet und in intellektuelle Denkspiele ausweicht, finden wir ihn auch oft auf der Flucht in die Vergangenheit, beim Suchen nach sogenannten Ursachen oder Erklärungen und bei anderen Versuchen, die Verantwortung zu vermeiden, oder er flüchtet in die Zukunft, zum Beispiel in Tagträume, er wartet auf Belohnungen des Himmels, er baut Luftschlösser.

Einer meiner Patienten verbrachte die ersten eineinhalb Jahre seiner Behandlung damit, seinem Analytiker zu erzählen, wie schwierig seine Frau, wie enttäuschend seine Freunde, und wie problematisch seine geschäftliche Lage sei. Bereitwillig produzierte er Assoziation zu den unterschiedlichen Menschen und brachte viel Material. Allerdings war auch die gegenwärtige Situation, nämlich die der Analyse, von Bedeutung. Als er mir von all diesen Leuten vorklagte, forderte ich ihn dazu auf, seiner jammervollen Stimme zuzuhören. Wir redeten dann darüber, daß er es vermied, die entsprechenden Leute zu konfrontieren, was nämlich geheißen hätte, persönlichen Kontakt mit ihnen aufzunehmen, stattdessen beklagte er sich immer nur bei dem einen über den anderen.

Ich fange gerne mit einer pedantischen Übung an: ich bitte den Patienten darum, jeden Satz mit "jetzt" oder sogar "hier und jetzt" anzufangen, also etwa: "Jetzt liege ich auf der Couch, jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll, jetzt fühle ich, wie mein Herz schlägt, jetzt denke ich gerade daran, wie ich gestern mit meiner Frau Krach hatte." In der letzteren Bemerkung wird die Verbindung zwischen der Bewußtwerdung einer leichten Besorgnis und der Erinnerung an die Beziehung des Patienten zu seiner Frau ganz offensichtlich. Oft aber flüchtet der Patient vor der direkten Erfahrung der Gegenwart. Er verschwindet lieber in die Vergangenheit oder er springt in die Zukunft, besonders, wenn er Erfahrungen mit der Freudschen oder Adlerschen Methode hat. Ich bleibe aber dabei, daß die Vergangenheit nur von Bedeutung ist, insoweit sie unerledigte Situationen repräsentiert - zum Beispiel unverdaute Erfahrungen. Die Flucht in die Zukunft wird auch dann pathologisch, wenn der Patient, anstatt sich mit gegenwärtigen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, sich mit "falls" und "wenn" und anderen Tagträumereien betäubt. Wir träumen immer in der Gegenwart, wir erfahren einen Traum als gegenwärtig. Das Wissen um dieses Phänomen wird in der Hypnose verwendet, wenn man den Patienten dazu anleitet, wie in einer Zeitmaschine Orte der Vergangenheit aufzusuchen. Diese Vorgehensweise kann auch ohne die Komplikationen der Hypnose eingesetzt werden. Probieren Sie es an sich selbst aus. Erinnern Sie sich an irgendeinen Ort ihrer Kindheit zurück und beschreiben Sie ganz einfach alles ganz detailliert, was Sie sich bildlich vorstellen. Sie werden staunen, was für eine Menge vergessenen Materials Sie wiederentdecken werden.

Wenn der Patient das Konzept "jetzt" verstanden hat, lasse ich das Wort "jetzt" meistens weg und mache ihn mit der Grundregel vertraut, die da heißt, daß er mir alles mitteilen soll, was er tut, denkt, fühlt und erlebt, daß er nichts absichtlich zurück-halten soll, aber er soll sich auch nicht dazu zwingen, etwas zu sagen, was er nur ungern ausdrückt. Er soll nur andeuten, daß es etwas gibt, was er nicht mitteilen kann oder will.

Wie Sie sicher bemerkt haben, bezieht sich der letzte Teil der Grundregel auf den Umgang mit dem Zensor und die Frage der verschiedenen Formen des Widerstandes, wie zum Beispiel Scham, Angst, Ekel, Höflichkeit und so weiter.

Der erste Teil der Regel ist, so weit ich das übersehen kann, umfassend, vor allem, wenn Sie sich daran erinnern, daß Denken Orientierung und Manipulation in kleinen Dosen ist, daß Denken unsichtbare Handlung ist. Die Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten zur Kooperation läßt sich zu diesem Zeitpunkt gut daran messen, ob er ohne Bezug zur Gegenwart in die Zukunft oder Vergangenheit entflieht. Das allgemeine Verhaltensmuster seiner interpersonellen Beziehungen spiegelt sich nun auch in der analytischen Situation. Er ist vielleicht sklavisch gehorsam, oder er macht sich über das Verfahren lustig, oder er kooperiert an der Oberfläche, führt aber die Regel ad absurdum, er spricht über die Regel, aber er hält sich nicht daran. Wenn er sich nicht an die Regel halten kann, obwohl er schon wirklich erschütternde Erfahrungen gemacht hat, dann ist das immer ein Zeichen für beträchtlichen Widerstand, und den kann er dann auch langsam als solchen erkennen.

Ich will kurz zwei Fälle darstellen, die zwei Extremvarianten von Kooperation demonstrieren:

Der erste Fall ist der einer Frau von etwa 40 Jahren, Sozialarbeiterin mit dem Ehrgeiz, Psychoanalytikerin zu werden. Sie spricht sehr gekünstelt und ersetzt Inhalte durch Fremd-worte. Sie ist eher grob vom Typ her, hat aber die Illusion, eine Dame und für höhere Dinge im Leben geboren zu sein. Lange Zeit konnte ich nichts tun als sie immer wieder dazu überreden, die Basisübung zu machen. Sie bestand einfach darauf, das sei Zeitverschwendung, daß sie sich langweile, oder sie benannte einfach die Gegenstände im Zimmer. Außer gelegentlichem Herz-klopfen spürte sie gar nichts. Sie war, um es deutlich zu sagen, weitgehend von ihren Gefühlen abgetrennt und intellektuali-sierte, wenn man denn diese dementia verbosa Intellekt nennen kann. Zu der 14. unserer Sitzungen kam sie dann allerdings mit einem Notizbuch in der Hand, in dem sie die Regeln, nach denen ich sie zu analysieren hätte, aufgeschrieben hatte. Sie lag eigentlich immer in einer sehr abweisenden Haltung auf der Couch, an diesem Tag aber zeigte sie sich etwas offener, wurde nach einiger Zeit recht unruhig und bemerkte das auch. Schließlich brach sie in Tränen aus und sagte: "Ich fühle mich wie ein Schiff, das hin- und hergeworfen wird. Ich muß die Oberhand behalten, sonst gehe ich unter." Bis zu diesem ersten Durchbruch hatte es 14 Stunden gedauert, - aber der Durchbruch brachte nichts. Im Gegenteil, sie wurde sogar immer schwieriger und wollte aufhören. Da ich meine Patienten eigentlich nicht für ihre Widerstände verantwortlich mache und ihnen Schuld zuweise, mußte ich mich folglich meinen eigenen Unzulänglichkeiten stellen, und da stieß ich auf das folgende Faktum: Ich war in den Fall persönlich verwickelt. Ich hätte mich so gerne mit Erfolg bei ihr gekrönt, sie hätte mir und der Welt beweisen können, daß ich auch mit so schwierigen Fällen fertig würde. Das heißt, ich hatte die analytische Objektivität verloren und hatte sie zu einem Gegenstand meines Ehrgeizes gemacht. Anstatt mich mit der vorliegenden Situation zu befassen, war ich dem Denken an die Zukunft verfallen, dem Zweckdenken. Des weiteren bemerkte ich, daß ich ärgerlich geworden war, als sie mit ihren Vorschlägen herausgerückt kam, ärgerlich darüber, daß diese aufgeblasene Nummer mir zeigen wollte, wie ich vorzugehen hätte. Dieser Ärger war ein Zeichen dafür, daß sie recht haben mußte. Sie konnte mir tatsächlich etwas beibringen, und sie tat es auch: nämlich, daß ich mich in meiner eigenen Theorie verheddert hatte, nämlich daß ich, statt auf die Aktualität ihres Symptoms, ihr Bedürfnis top dog zu sein, zu schauen, darauf reagiert hatte.

Ich ließ sie dann ihr Bedürfnis ausleben, Vorschläge zu machen und Forderungen zu stellen. Schließlich kristallisierte sich ihr Wunsch heraus, unter jeder Bedingung angenommen zu werden. Ich erklärte ihr, daß sie zwar akzeptiert werden wollte, daß sie aber nicht bereit war, mich und meine Art, mit ihr umzugehen, zu akzeptieren, und darüber hinaus, daß sie nicht bereit war, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren. Langsam beginnt sie, ihren neurotischen Konflikt zu verstehen, nämlich den Kampf zwischen der künstlichen Fassade und dem emotionalen Selbst, vor dem sie sich fürchtet.

In dem anderen Fall sind erst fünf Sitzungen zustande gekommen. Der Patient ist Philosophiestudent und als schizoid diagnosti-ziert. Er kam zur Analyse, weil er den Geschmack am Leben verloren hat, er trug sich mit Selbstmordgedanken, kann sich nicht mehr konzentrieren. Er ist homosexuell, lebt seine Sexualität aber nicht aus. Philosophisch sieht er sich Aristoteles nahe, in letzter Zeit hat er aber Interesse an Husserl und den französischen Existentialisten entwickelt.

Da mein Ansatz sich auf Husserls Phänomenologie bezieht, fand er es nicht schwierig, mir zu folgen und nach der ersten halben Stunde konnte ich zum nächsten Schritt übergehen - dem Umgang mit Prozessen. Während es anfänglich ausreicht, wenn der Patient versteht, daß etwas "da ist" muß er später verstehen, daß etwas "vorgeht", und zwar kontinuierlich. Er muß sich mit der Tatsache vertraut machen, daß seine Erfahrungen, sein Verhalten, seine Symptome, seine Gedanken usw. Prozesse sind. Ereignisse der Raum-Zeit. Sie dauern an. Er muß lernen, sich auf sein Symptom zu konzentrieren und dann die Entwicklung zu verfolgen, die in ihm vor sich geht, sobald er in Kontakt damit ist, sobald er wieder sensibel dafür wird und Bewegung in die Symptomatik kommt.

Was jetzt folgt, ist eine Ausschnitt aus der dritten Stunde. Er erzählt: "Meine Stirn tut weh, mein Mund ist ausgetrocknet, mein Kopf möchte sich in das Kissen zurückdrücken. Jetzt bin ich außer Atem. Ich sehe, wie ich eine Straße entlang renne, ein Auto fährt über mich, aber es berührt mich nicht. Ich weiß nicht, ob das wirklich passiert ist. Meine Knie sind ganz schwer, meine Augen wollen sich schließen, ich habe das Gefühl, weinen zu wollen, aber ich kann nicht. Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr geweint." Dann fängt er an, von seinem Vater zu erzählen, der von einem Auto totgefahren wurde. Er erzählt dies und weitere Einzelheiten des Unfalls und des Todes mit sehr sachlicher Stimme. In dem Moment aber, als er sich den Sarg bildlich vorstellt, bricht er in lautes, intensives und echtes Weinen aus.

Eben dieser Patient hat ein Syndrom, das sich am besten mit Hilfe von Hausaufgaben angehen läßt. Diese Hausaufgaben sind wichtig, wenn es darum geht, die Behandlung zu verkürzen. Obwohl die klassische Analyse verlangt, daß der Patient sich ganz der Analyse hingeben soll und er damit aufhören soll, Sachen zu tun, freut sich auch der Freudianer, wenn die Patienten etwas über sich selbst herausfinden oder sich trauen, eine Straße zu überqueren, obwohl sie an Agoraphobie leiden. Warum also soll man dann die Kooperation des Patienten nicht planen und miteinbeziehen, oder, wie im Falle der unbewußten Sabotage oder der zwanghaften Ersatzhandlungen, diese benutzen, um die Bewußtmachung der Widerstände zu mobilisieren?

Unser Philosophiestudent hat den Kontakt mit und den Geschmack an seiner Umwelt verloren. So weit ich das beurteilen kann, geht das immer einher mit einem tauben Gaumen. Er genießt und schmeckt seine Nahrung nicht. Er hat am Essen nur Freude, wenn er für einen anderen kocht, und dem anderen schmeckt es. In einem solchen Fall verordne ich Übungen rund ums Essen. Das fängt damit an, daß ich Beobachtungen anstellen lasse, wieviel Aufmerksamkeit der Patient seinem Essen schenkt. Liest er oder hängt er Tagträumen dabei nach? Schlingt er sein Essen hinunter, oder anders gesagt, trinkt er gleichsam selbst feste Nahrung?

In der fünften Sitzung berichtete er, daß er bereits anfange, sein Essen zu schmecken und entsprechend werde auch sein Leben wieder interessanter. Er gehe wieder aus und nehme wieder Kontakt mit seinen Freunden auf. Obwohl er sich im großen und ganzen immer noch sehr hölzern ausdrückt, kann ich schon einige Lockerungen seines Gefühlslebens beobachten, z. B. lächelt er manchmal flüchtig.

Wenn ein Patient sich gegenüber seinem eigenen bildlichen Vorstellungsvermögen blind gemacht hat und anstatt von Bildern nur Wörter in seinem Kopf hat, versuche ich, ihn Interesse an seiner Umgebung entwickeln zu lassen, statt daß er sie nur abstrakt wahrnimmt. Gleichzeitig versuche ich, seine Zurückhaltung aufzuweichen und ihn einen Eindruck von der Welt da draußen gewinnen zu lassen.

Die Patientin, die ich weiter oben erwähnte, hat eine völlige Visualisierungsblockade. Aber im Augenblick stellt sich noch gar nicht die Frage, wie ich das Problem mir ihr angehe, denn im Augenblick ist sie nur daran interessiert, wie die Welt sie sieht.

Ein intelligenter und gewissenhafter Ausbilder kam wegen seiner sexuellen Impotenz zu mir in die Analyse. Er sprach sehr schnell auf die Konzentrationstechniken an. Nach einigen Sitzungen zappelte er auf der Couch herum, und erinnerte sich dann daran, daß er genau so zappelte, als er neun jahre alt war und seine Mutter ihn dazu zwang, ruhig zu liegen, während sie Würmer oder so etwas ähnliches aus seinen Genitalien entfernte. In den darauffolgenden Sitzungen veränderten sich seine Bewegungen und wir gingen ihnen mit Interpretationen nach. Aber gerade daß er so leicht und schnell mit Interpretationen zur Hand war und auch, daß er mit Reichs Arbeit vertraut war, machte mich mißtrauisch. Vielleicht versuchte er nur, seiner eigenen Erwartung an eine Reichianische Analyse gerecht zu werden. Ich war auch nicht so schnell bereit, meine Überzeugung aufzugeben, daß die aktuelle Situation von entschiedener Wichtigkeit sei. Schließlich produzierte er Unruhe als Symptom, und die hörte nicht auf. Zum ersten Mal konnte er selber keine Interpretation dafür liefern. Er konnte einfach nicht ruhig auf der Couch liegenbleiben. Eine oder sogar beide Schultern hielt er immer nach oben gekrümmt. Ich fand, er sehe aus wie in einem Ringkampf. Diesen Eindruck bestätigte er. Er erinnerte sich an einen Ringkampf, in dem er sich mit dieser Haltung zu wehren versucht hatte. Das Symptom dauerte an oder, besser gesagt, er behielt seine Körpersprache bei, bis ich ihn fragte, ob diese Körperhaltung vielleicht symbolisch seine Haltung zu mir aus-drücke. In diesem Moment ließ er los. Wir hatten uns einige Zeit vorher über experimentelle Psychologie gestritten, und er hatte damals wie heute rigoros abgelehnt, sich meinen Ansichten anzuschließen. Auf meine Frage: "Könnten wir uns nicht vielleicht darauf einigen, verschiedener Meinungen zu sein?" beruhigte er sich und lehnte sich zum ersten Mal entspannt zurück.

Den meisten Patienten macht es keine Schwierigkeit, ihre Desensibilisierungen und Verkrampfungen direkt anzugehen. Im Gegenteil, sie bemerken schnell, daß etwas passiert; sie sehen, daß schmerzhafte und störende Symptome verschwinden oder sich in Wohlgefühl verwandeln. In diesen Fällen hat, bei aller unflexiblen Selbstkontrolle, ein gewisser Kontakt zum Selbst überlebt.

Es gibt aber mindestens drei Gruppen von Patienten, die die langwierige archäologische Arbeit der Charakteranalyse benötigen, bevor man mit der phänomenologischen Analyse einsetzen kann. Bei diesen Menschen findet man tiefsitzende Verachtung für ihre spontane Persönlichkeit, Verleugnung dessen, "was ist", und Glorifizierung dessen "was sein sollte". Diese Menschen hängen Idealen an, und sie haben ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse so weit abgespalten, daß sie diese unter keinen Umständen wahrnehmen und auf keinen Fall als Teil ihres Selbst akzeptieren können.

Außer dieser Gruppe gibt es noch die "als ob" Persönlichkeiten, um einen Begriff zu verwenden, den Helene Deutsch geprägt hat. Diese Patienten spielen Rollen vor, und durch eine Art von Pseudo-Mitarbeit täuschen sie den Analytiker so, wie sie sich schon durch ihr ganzes Leben geschwindelt haben. Erst wenn sie merken, daß sie sich immer wie auf einer Bühne bewegen, daß sie nicht einen Charakterpanzer sondern eine ganze Schrankwand voller Kostüme haben, kommen sie mit ihrer wahren Natur in Berührung. Dieser Schritt wird gemeinhin von einem Gefühl großer Leere und von Sehnsucht nach Empfindungen begleitet. Es gibt ein Symptom, das eine "als ob" Persönlichkeit ankündigt: das Gefühl chronischer Langeweile. Wie Sie wahrscheinlich wissen, setzt Langeweile ein, wenn Ihre Aufmerksamkeit auf eine Situation gerichtet wird, an der Sie kein Interesse haben, und wenn gleichzeitig die natürliche Figur-Hintergrund-Formation block-iert ist. Die "als ob" Persönlichkeit versucht, der Langeweile mit sich steigender Sucht nach Aufregung und manchmal nach Drogen zu entkommen, anstatt sich der Figur-Hintergrund-Formation zu überlassen.

Eine andere Patientengruppe bereitet große Anfangsschwierig-keiten, das sind die eher zwanghaften. Ich beziehe mich jetzt nicht auf die gewissenhaften, systematischen, vielleicht über-systematischen, hart arbeitenden Menschen. Die sind sehr kooperativ. Aber es gibt einen weiteren zwanghaften Charakter, der hauptsächlich Angst davor hat, daß man sich lustig über ihn macht, ihn zum Narren hält. Er beschäftigt sich mit nutzlosen Ersatzhandlungen, in Gedanken wie im Leben. Er ist immer ernst, aber nie ernsthaft. Bei ihm liegt die anfängliche Schwierigkeit darin, ihm klar zu machen, daß er nur ein einziges Ziel verfolgt: nämlich heimliche Triumphe zu feiern. Er führt Anforderungen ad absurdum, streitet stundenlang herum, frustriert und zeigt seinem Therapeuten, daß der ein impotenter Esel ist, unfähig, mit einem cleveren Burschen wie ihm fertig zu werden. Aber er projiziert seinen eigenen Spott und stellt sich vor, daß andere ihn zum Narren halten wollen. Ihnen fällt nicht auf, daß er derjenige ist, der alle zum Narren halten will. Erst wenn er merkt, wie närrisch es ist, sein Leben damit zu verbringen, kann er sich mit ernsthafter Arbeit und Kooperation befassen.

Vielleicht kann man dieser Kategorie auch Patienten zuordnen, die als wertvolle Stützen der Gesellschaft ausgewiesen sind. Sie müssen immerzu ihre eigene Existenz rechtfertigen. Man weiß ja, daß ein Mann, der ständig seine sexuelle Potenz beweisen muß, sich ihrer nicht recht sicher ist. Eine ähnliche Struktur findet sich in einem Menschen, der sich seiner Existenzberechtigung nicht sicher ist. Er existiert nicht ganz und gar. Wie die drei Typisierungen, die ich vorher aufgezählt habe, ist er bis zu einem solchen Grad desensibilisiert, daß intellektuelle und soziale Ziele die ungefühlten biologischen Triebe ersetzen. Ohne seine selbst konstruierten Ziele würde er sich so leer fühlen wie die drei anderen Gruppen. Marx sagte einmal, daß die Existenz eines Phänomens seine Notwendigkeit beweise. Gäbe es die amerikanischen Neurosen nicht, würde die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten schnell aussterben. Auf gleiche Weise bezieht der französische Existentialismus seine raison d'étre aus unserem schnell dahinschmelzenden Grad an Selbstgewahrsein.

Interessanterweise wirft unser Thema auch ein Licht auf den Alkoholismus. Dieser ist nämlich ein fruchtloser Versuch, den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Selbstausdruck und der Desensibilisierung zu lösen. Das Trinken unterstützt die emotionale Entladung - und verringert dadurch die unerträgliche Spannung -, aber das Gewissen oder das Ideal und die Gefühle der Unzulänglichkeit und Gehemmtheit werden nur zeitweise gedämpft. Der Alkoholiker schafft es genauso wenig wie die anderen Neurotiker, seine Individualität der Gesellschaft unterzuordnen, er schafft es nicht, sich gesellschaftlichen Forderungen zu unterwerfen, und wird nicht zum wohlerzogenen Roboter.

Ich muß zum Ende kommen. Ich kann hier nicht auf all die unterschiedlichen Weisen eingehen, wie Menschen ihre Orien-tierungs- und Manipulationsfähigkeit abstumpfen (lassen). Ich muß die sehr interessante Verbindung zwischen Empfindungs-losigkeit bei der Nahrungsaufnahme und paranoiden Phänomenen auslassen, zwischen Retroflektion und Verdrängung, zwischen Ich-Entscheidung und Kontakt-Funktionen und vielen anderen Phänomenen, die sich mit Störungen im Prozeß des Gewahrseins befassen, aber ich kann eine grobe Skizze entwerfen, wie eine durchschnittliche Behandlung verläuft:

Im Vorfeld finden wir als Sicherungsposten des Status quo den Charakter. Wenn wir die Hauptwiderstände eben jenes Charakters durchgearbeitet haben, lernt der Patient, sich wieder selbst zu erfahren. Das wichtigste an diesem Punkt der Selbsterfahrung ist ein Höchstmaß an Bewußtheit, die Unterscheidung zwischen pathologischer Introspektion und intensiviertem Lebensgefühl. Indem er lernt, seinen eigenen Prozeß bewußt zu erleben, erfährt er sich als gespalten zwischen seinen absichtlichen und ver-drängenden und seinen spontanen und verdrängten Persönlichkeits-anteilen. Während dieser Zeit identifiziert er sich mit seinen verdrängenden Anteilen, die sich auf jede nur mögliche Weise von den inakzeptablen Teilen seiner Persönlichkeit abspalten wollen, zum Beispiel durch Muskelverspannungen. In dieser Phase sind alle seine interpersonellen Beziehungen von der Angst besetzt, er sei für seine Umnwelt unausstehlich. In der nächsten Phase muß er lernen, seine Impulse zur Selbstkontrolle, seine Selbst-vorwürfe, seine Selbstbestrafungen wieder auf seine Umgebung zu richten. Dadurch vervielfältigen sich seine Kontaktmöglichkeiten mit Freunden und Feinden. Ganz bewußt beginnt er nun damit, diese zu kontrollieren, ihnen Vorwürfe zu machen, sie zu be-strafen. Diese Richtungsumkehr macht es ihm möglich, viele Konflikte zu beenden, die durch Internalisierung zu chronischen geworden waren. Er kann nun aus Selbstvorwürfen Begegnungen machen. Wenn er sich mit all seinen Prozessen identifizieren kann, lernt er auch allmählich, seine spontane Persönlichkeit zu akzeptieren. Wenn seine inneren Konflikte verschwinden, wird er stark genug und so mit sich selbst identisch (unified) sein können, daß er seine eigenen Meinungen so wertschätzen kann, wie vorher nur die der anderen. Statt in Furcht vor Ablehnung und mit der Sehnsucht nach Angenommen-Werden zu leben, ist er es jetzt, der akzeptiert und ablehnt. Er nimmt von der Welt so viel, wie er für seine künftige Entwicklung will und braucht. Während er vor seiner Therapie Menschen in Gute oder Schlechte geteilt, und sie akzeptiert oder abgelehnt hat, unterscheidet er jetzt Situationen und Qualitäten. Er entwickelt einen eigen-ständigen Geschmack und übt Einfluß auf die Welt nun so aus, daß ein Optimum von Befriedigung möglich ist. Seine Vorsätzlichkeit verwandelt sich von autoritärer Selbstkontrolle in liberale Selbst- und Objektorganisation.

Ich hoffe, ich konnte zeigen, daß die Neurose ein lebensfeindlicher Versuch ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Neurose funktioniert nach dem biblischen Grundsatz von "Wenn Dich ein Auge stört, so reiß es aus ..." Das Resultat ist eine eingeschränkte anstelle einer ganzheitlichen Persön-lichkeit.

Durch Resensibilisierung und Remobilisierung des Systems zur Orientierung und Manipulation erreicht man die Reintegration der abgespaltenen Teile der Persönlichkeit am besten. So weit ich es überschauen kann, führt dieser Ansatz sehr weit. Wenn der Patient seine Symptome etc. prozeßhaft erleben kann, übernimmt er die Aufmerksamkeit und bewußte Kontrolle, die für seine semantische und soziale Einpassung nötig ist -, das heißt, er versteht seine persönlichen Bedürfnisse und kann seine Umgebung daraufhin beeinflussen. Diese Prozesse geschehen in der Gegen-wart und müssen deswegen auch als gegenwärtige behandelt werden; denn sie sind der Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Reorganisation der Persönlichkeit durchläuft Pro-zesse, die integrierend wirken und solche, die desintegrieren. Sie sollte so ausbalanciert werden, daß nur so viel abge-spaltenes Material frei wird, wie der Patient assimilieren kann. Sonst könnten seine sozialen oder sogar seine biologischen Grundlagen ernsthaft gefährdet werden.

Der analytische Prozeß der Desintegration trifft auf infantile und irrationale Einstellungen, auf unangemessene und rigide Versuche, der Umwelt zu begegnen, auf emotionale und semantische Blockaden. Die integrierenden Prozesse fördern die Anerkennung und Assimilation von traumatischen, introjizierten und proji-zierten Materialien, die Kontaktfunktionen und den emotional und semantisch angemessenen Ausdruck des Selbst.

Sobald der Therapeut die Struktur der Neurose durchschaut hat, sollte er seinen Therapieplan entwerfen, aber während der ganzen Behandlungsdauer wachsam und flexibel damit umgehen.

Ich möchte diesen Vortrag nicht beenden, ohne eine Gefahr zu erwähnen: zwischen den einseitigen Ansätzen, nämlich zwischen den rein psychologischen Konzepten von Korzybski, Adler und Horney, und den biologistischen Methoden der Schulen von F.M. Alexander und Elsa Gindler, zwischen der analytischen Technik Freuds und den kreativen Bemühungen, sagen wir mal, eines Musiklehrers; zwischen Reichs sexualisierter Persönlichkeit und Jungs desexualisierter Libido; inmitten aller dieser Abstrak-tionen von dem, was die vollständige Persönlichkeit ausmacht, gibt es noch genug Raum für und sogar ein Bedürfnis nach dieser und vielen anderen Vorgehensweisen. Eine weitere Gefahr, die ich sehe, ist die des Elektizismus. Statt einen umfassenden und unitaristischen Standpunkt (Unitary point of view) einzunehmen und aus diesem Zentrum zu agieren, springt man möglicherweise von Methode zu Methode, verbreitet Verwirrung und produziert nur einen weiteren Typ von gespaltener Persönlichkeit.

Das Konzept und die Erfahrung, daß die menschliche Persön-lichkeit ein unteilbares Ganzes und immer in die Umgebung eines persönlichen und sozialen Feldes eingebettet ist, bietet Schutz gegen diese Gefahr. Da Ihr Institut auf diesem Konzept aufbaut, ist die Gefahr, einem solchen Elektizismus nachzugeben, gering. Im Gegenteil, wenn ich einen Vorschlag machen darf, dann empfehle ich Ihnen als notwendig komplementären Aspekt zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit das Studium von zumindest drei Theorieansätzen: Gestaltpsychologie, Semantik und last not least das Konzept der Gindler Schule.6 Fritz hatte damals gerade Charlotte Selver kennengelernt und arbeitete mit ihr zusammen. Ich hatte etwas Gindler-Arbeit in Berlin und vorher und auch später jahrelang ähnliche Körperarbeit gemacht. Fritz war damals noch zu sehr Analytiker und eigentlich gar nicht an Körperarbeit interessiert.

Schließlich will ich noch einige persönliche Bemerkungen an-schließen: Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, meinen Standpunkt hier darzulegen.

Nachdem ich jahrelang in Afrika alleine mit den Freudschen Ideen gekämpft hatte7 Fritz hatte nicht "ganz alleine gekämpft". Nicht nur mit mir sondern einer kleinen Studiengruppe zusammen besprachen wir damals in unserer Zeit in Südafrika alle anliegenden Probleme., bin ich zu dem folgenden Ergebnis gelangt: Obwohl Freud der Livingstone des Unbewußten war, war die Landkarte, die er gezeichnet hatte, bereits veraltet. Sie funktionierte nicht mehr als Wegweiser, als Orientierungshilfe, sie mußte neu entworfen werden. Ich war überzeugt, daß ich einige wichtige Orientierungspunke entdeckt hatte, aber viele weiße Flecken - zum Beispiel was Bewußtheit (Awareness) ausmacht - waren geblieben. Ich bin schließlich an den Punkt gekommen, wo ich einige meiner Eintragungen in der Karte überprüfen und wo ich vielleicht auch einige der weißen Flecken ausfüllen kann. Da die USA sich zum Zentrum der Wissenschaft entwickelt hat, lag es für mich auf der Hand, daß ich hierher kommen wollte. In Südafrika galt ich als größenwahnsinnig, weil ich es gewagt hatte, den Worten des Meisters zu widersprechen, in Kanada wurde ich für einen Dummkopf gehalten, weil ich den sakrosankten Reflexbogen anzweifelte, in New Haven wurde ich für vogelfrei erklärt, weil ich Psychotherapie ohne medizinische Erlaubnis ausüben wollte und, was schlimmer war, weil ich keiner festen Gruppe angehörte, in New York nun eigentlich als wahnsinnig, weil ich eine gesicherte ökonomische Position aufgegeben hatte. Irgend etwas muß an mir doch nicht ganz richtig sein, oder vielleicht treiben mich ja höhere, andere Beweggründe. Natürlich kann ich nicht die Wurzeln einer Glaubensrichtung attackieren und gleichzeitig auch erwarten, von ihr akzeptiert zu werden, aber ich weiß, daß ich nicht einfach destruktiv, sondern konstruktiv bin und auch etwas zu sagen habe. Lag ich vollkommen falsch oder waren alle anderen blind? Dann geschah ein Wunder. Vor ein paar Monaten traf ich ein paar Mitglieder Ihrer Gruppe, und ich war wie selten in meinem Leben tief bewegt. Tatsächlich gab es offenbar ein paar Menschen auf dieser Erde, die die Welt so sahen wie ich, deren Sprache meiner ähnlich war. Es war wie ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Ich kam mir vor wie ein Seemann, der wußte, daß er auf dem richtigen Kurs ist, aber daran zweifelte, ob er je wieder Land sehen würde, und ganz plötzlich und unerwartet lag es vor ihm. Aber das ist ja nicht alles, dabei darf man nicht stehenbleiben. Die große Welle der menschlichen Desintegration, kommt auf uns zu, der Selbstmord der Menschheit. Deiche müssen erbaut werden. Können wir das zusammen angehen? Könnte die Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht zu spät ist, zur Möglichkeit werden?

Freud fing damit an, den Neurotiker als den Ausnahmefall einer gesunden Umgebung zu betrachten. Ich glaube jedoch, daß inzwischen die Neurose ein umfassendes soziales Problem geworden ist. Deswegen heißt die Frage, die ich Ihnen stellen will: ist die Zeit reif dafür, daß wir diese soziale Krankheit in einem größeren Rahmen sehen können, anstatt weiterhin Stückwerk zu leisten, womit wir uns bisher beschäftigt haben? Kann oder soll man Psychotherapie in einer anderen Größenordnung planen? Ich persönlich zweifle daran, daß Gesellschaft und Regierung bereit dazu sind, das ganze bedrohliche Ausmaß des Problems zu sehen, aber ich habe auch den Eindruck, daß sie für die Existenz des Problems nicht mehr ganz unempfindlich sind.

Freud sah nur das Unbehagen an unserer Kultur. Spengler sah den Untergang des Abendlandes. Wir sind im Moment Zeuge des Auseinanderfallens von Europa, aber wir sind auch Zeugen von etwas ganz anderem. Früher konnte eine Kultur ihren Lauf beenden und verschwinden, und es gab genug Platz auf der Erde für zukünftige Kulturen. Aber die Welt ist geschrumpft, alle Nationen werden in die Einflußsphäre des europäisch-amerika-nischen Kulturkreises einbezogen. So heißt das Ende dieser Kultur das endgültige Ende. Eine schizophrene Weltuntergangs-phantasie scheint Wirklichkeit zu werden. Es war nicht ein Wissenschaftler, sondern ein Dichter, der das zuerst sah:

D.H. Lawrence schreibt8In Lady Chatterley's Lover (Penguin 1961, p. 226) Perls nennt weder den Text, aus dem er zitiert, noch zitiert er genau. Möglicherweise lag ihm 1947 eine "gereinigte Fassung" vor, denn er tilgt das Adjektiv halfballed. Die andere Veränderung ist allerdings unverfänglich, betrifft ein Verb und bezieht sich auf den Regen. Der Kontext des Zitats ist politischer, als er sich hier vielleicht anhört: die Tommys sind die einfachen englischen Soldaten im Gegensatz zu den Offizieren der Oberschicht, beides Engländer und nicht im Kontrast zu anderen Nationalitäten. (in: Lady Chatterley's Liebhaber): "... Connie lachte. Es regnete in Strömen. 'Er haßte sie!'

'Nein' sagte er. Sie waren ihm gleichgültig. Er mochte sie einfach nicht. Das ist ein Unterschied. 'Weil die Tommys', so sagte er, 'genauso verklemmt und engherzig werden. Den Weg wird die ganze Menschheit gehen.'"

(Aus dem Amerikanischen von Christiane Schmitt und der Redaktion Gestaltherapie)

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Friedrich S. Perls

PLANVOLLE PSYCHOTHERAPIE

(herausgegeben von Laura Perls)

Meine Damen und Herren, wir wissen nur allzu gut, daß wir in eine Zeit vielfältiger Widersprüche hineingeboren wurden.

Bis ins 18. Jahrhundert war eine geistige, eine spirituelle Vorstellung von der Welt von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Selbstverständlichkeit. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann die materialistische Sicht in der Wissenschaft und in der Vorstellungswelt vieler Menschen durch. An die Stelle der emotionalen Geborgenheit einer religiösen Weltsicht trat die intellektuelle Befriedigung, der Rationalismus, die Vorhersagbarkeit und Sicherheit, soweit quantitatives Vorgehen sie bieten konnten. Die Wissenschaft errang mit ihrer analytischen Methode einen Triumph nach dem anderen, sie zerlegte die Welt in Teilchen und arithmetische Zahlen, aber Versuche zur Synthese gingen über die Gründung des Völkerbundes und die Erfindung einiger chemischer Ersatzprodukte nicht weit hinaus.

Wir leiden vielleicht mehr als je zuvor in der Geschichte an Zweifeln und Widersprüchen, am Dualismus von Körper und Seele, Geist und Materie, Theismus und Materialismus. Selbst die fortschrittlichste psychiatrische Terminologie spricht von einer psychosomatischen Medizin, so als ob es Psyche getrennt von Soma gäbe. Im allgemeinen haben wir noch nicht gelernt, solche Dualismen als Dualitäten anstatt als Widersprüche zu betrachten. Anstelle einer integrierten Vorstellung betrachten wir die Welt eher mit einer Mischung aus Materialismus und Spiritualismus.

Unser mechanistisches Zeitalter hat die Vorstellung aufgegeben, daß die Seele etwas sei, was bei der Geburt in den Körper einströmt und ihn beim Tod oder in mystischen Ausnahmesitutationen wieder verläßt. Seele und Geist sind heutzutage zu Ausscheidungen des Hirns und einiger Hormondrüsen geworden, und ein paar Theorien, darunter die Assoziationstheorie und die Theorie vom Reflexbogen, befriedigen das Bedürfnis nach mechanistischen Vorstellungen, auch wenn sie sich widersprechen. Das Hirn und das Rückgrat werden in Abschnitte und Teilstücke zerlegt, aber niemand kann sie wieder integrieren - und ganz ähnlich verfährt man mit der sogenannten Psyche.

Die drei folgenden Hauptkonzepte charakterisieren die mechanistischen Vorstellungen in der Psychologie:

- Die Psyche ist identisch mit dem Bewußtsein.

- Der Geist besteht aus zusammengesetzten Teilchen, seine Funktionen werden vom Assoziationsgesetz diktiert.

- Wahrnehmung und Handlung bedingen sich gegenseitig durch die neuronalen Verbindungen des Reflexbogens.

Freud bewies, daß die erste dieser Theorien nicht stimmt, was die meisten Wissenschaftler heute akzeptieren.

Die Gestaltpsychologie ersetzt allmählich die zweite Theorie. Auch wenn die Gestalttheorie als Ganzes noch nicht voll akzeptiert wird, sind einige ihrer Grundkonzepte, besonders die von der Vorstellung des Organismus als einer Einheit, der mit einem einheitlichen Zweck reagiert, weitgehend rezipiert worden.1 Das entspricht eher Kurt Goldsteins organismischer Theorie und seiner speziellen Anwendung der Gestalttheorie, als daß es Bestandteil der damaligen Gestaltpsychologie gewesen wäre.

Die dritte Theorie, die vom Reflexbogen, hat sich als äußerst nützlich für die Neurologie herausgestellt. Sie ist so weitgehend als Denkmuster übernommen worden, daß geringste Zweifel an ihrer Richtigkeit die Feindseligkeit und den Spott hervorrufen, den Freud erfuhr, als er seine revolutionären Ideen zum ersten Mal veröffentlichte.

Ich will hier heute abend in keine Diskussion darüber einsteigen, aber ich will betonen, daß ich zum Beispiel nicht daran glaube, daß Lichtstrahlen auf mechanische Weise ins Hirn wandern und dort eine Handlung in Gang setzen. Ich folge lieber Professor Kurt Goldstein in der Annahme, daß das senso-motorische System aus zwei Systemen besteht, nämlich einem sensorischen System und einem motorischen System. Persönlich möchte ich hinzufügen, daß diese zwei Systeme, obwohl eng ineinander verwoben, die organischen Aspekte von Orientierung und Manipulation sind. Sowohl die Orientierung - d. h. der sensorische Apparat - als auch die Manipulation - d. h. das motorische Instrumentarium - richten sich vom Organismus auf die Umwelt, und der eine führt nicht in den Organismus hinein und der andere nicht aus dem Organismus heraus. Wenn Sie sich die Fühler eines Insektes vorstellen, oder ein Baby, das seine Primärerfahrungen mit dem Mund macht, oder einen Blinden mit seinem Blindenstock oder seinem Blindenhund, dann bekommen Sie eine erste Ahnung davon, wie die Argumente gegen die Theorie vom Reflexbogen aussehen. Wenn man die sinnlichen Erfahrungen wieder den Sinnen zuordnet, dann sind auch die philosophischen, semantischen, theoretischen und anderen Mittel der Orientierung leicht in ein einheitliches Konzept der menschlichen Persönlichkeit einzuordnen.

Die integrative Funktion des menschlichen Nervensystems führt schließlich zu einem spezifischen Blick auf die Welt, einer Weltanschauung. Eine solche Sicht der Welt ist die Blaupause, der Grundlagenentwurf für unsere Handlungen. Solange also unsere Vorstellung von der Welt magisch ist, ist auch Psychotherapie ein magischer Ritus. Das ist z. B. bei der Christlichen Wissenschaft so. Ein moralistisches Weltbild sucht die Lösung in der Ausrottung. Eine mechanistische Vorstellung von der Welt wird versuchen, innere Konflikte mit Beruhigungsmitteln und geistige Verwirrung mit dem Skalpell anzugehen. Die rein psychologischen Schulen werden versuchen, Komplexe und Widersprüchlichkeiten zu beseitigen, die Sexualtherapeuten wollen die Funktionen des Orgasmus wiederherstellen.

In einer Hinsicht jedoch scheint sich eine Verständigung der verschiedenen Schulen zumindest in der Theorie allmählich herauszuschälen, nämlich in der Annahme, daß der Neurotiker (und auf ihn will ich mich hier beschränken) eine gespaltene und dissoziierte Persönlichkeit ist und daß die Heilung durch eine Reintegration der Persönlichkeit und ihrer intrapersonalen Beziehungen erfolgt.

Trotz dieser hypothetischen Übereinstimmung sind die daraus folgenden praktischen Konsequenzen sehr eingeschränkt, wie ständige Feindseligkeiten und Polemiken - oder um Freuds Terminologie zu benutzen, die gegenseitigen negativen Übertragungen zeigen.

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Psychotherapeuten nur in wenigen Ausnahmefällen einen Grad von Integration erreichen, der es ihnen erlaubt, Dissoziationen innerhalb ihrer selbst und in anderen zu sehen und damit fertig zu werden, und es gibt auch gute Gründe, weshalb eine solche Integration für den Einzelnen wie für die psychotherapeutische Bewegung insgesamt schwer zu erreichen ist.

Da gibt es zunächst sprachliche Schwierigkeiten. Obwohl die Sprache das Basiswerkzeug des Psychotherapeuten ist2 Die Sprache ist das Basiswerkzeug des Psychoanalytikers. Der Gestalttherapeut kann natürlich viele andere Modalitäten einsetzen., setzen wir vielfach voraus, daß wir die gleichen Wörter mit den gleichen Bedeutungen benutzen wie die Person, mit der wir zu tun haben, oder wir erachten es als ausreichend, dem anderen unsere Bedeutung in der Erwartung zu erklären, daß der bloße Akt der Definition tief verankerte Denkgewohnheiten auflöst.

Wenn wir annehmen, und dies scheint erstmal die einfachste Theorie zu sein, daß die moderne amerikanische und europäische Persönlichkeit in absichtliche und in spontane Funktionen gespalten ist, dann können wir Neurosen als das Ergebnis eines nicht gelungenen Kompromisses zwischen diesen beiden Funktionen beschreiben. Als dualistische Persönlichkeit hat das moderne Individuum auch eine dualistische Geisteshaltung und eine dualistische Sprache. Wir denken in den Gegensätzen von Psyche und Soma, Gut und Böse, Überich und Es, Geist und Natur, Eros und Thanatos, Individuum und Gesellschaft. Nein, bisher haben wir es noch nicht geschafft, uns einer Sprache der Einheit, einer integrierten Sprache zu bedienen. Wir sehen Dualismen, wo es nur Dualitäten gibt oder die zwei Hälften eines Ganzen oder, wie im Falle der menschlichen Persönlichkeit, sehen wir den Körper oder den Geist oder das Unbewußte, wo wir nur die verschiedenen Aspekte eines einzigen Organismus vor uns haben. Wir haben einen Körper, wir sind es nicht, wir haben Gedanken und Überlegungen, anstatt die Denkenden oder Überlegenden zu sein.

Wie wir alle wissen, ist dieses Verleugnen der eigenen Anteile besonders bei zwanghaften Persönlichkeiten deutlich zu beobachten, aber davon findet sich auch in unser aller Geisteshaltung einiges, denn nach den Jahrtausenden dissoziierter Existenz und Geisteshaltung können wir die Uhren nicht auf Heraklits Zeit zurückstellen.3 Anmerkung der Übersetzerin: die anachronistische Metapher ist die des Autors.* Wir müssen uns neue sprachliche Werkzeuge schaffen, die unserer kulturellen Situation angemessen sind, wenn wir darauf hoffen wollen, die Dissoziationen des homo sapiens zu überwinden, wenn wir darauf hoffen wollen, daß er es wert ist zu überleben.

Außer auf sprachliche Schwierigkeiten treffen wir auch auf philosophische, nämlich auf unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Integration heißt. Manchmal ist es der Charakter, der der Integrtion bedarf, manchmal sind es die intra-personellen Beziehungen, manchmal die Triebe und in den meisten Fällen das Bewußte und das Unbewußte. Oft strebt man eine Kombination mehrerer Aspekte an, aber nur ganz selten nimmt man eine wirklich umfassende Integration in den Blick und arbeitet damit.

Die dritte Frage, die sich stellt, ist die soziologische. Können wir den Teufelskreis durchbrechen, in dem wir uns als Kulturmenschen befinden? Kann eine wirklich integrierte Persönlichkeit in einer dissoziierten Gesellschaft funktionieren? Wenn wir als Ziel der Psychotherapie die Anpassung an die Umwelt ins Auge fassen, und Sicherheit so wichtig dafür ist, müssen wir dann nicht erwarten, daß die "Integrierte Persönlichkeit" (Unitary personality) als ein seltsames Phänomen viel Feindseligkeit erfahren muß, und daß sie genau die Sicherheit zu verlieren droht, die ihr eine konformistische Einstellung geben könnte? Ich glaube, wir können diese Frage jetzt nicht beantworten. Aber das aufsprießende Interesse an Fragen der Psychiatrie in den USA zeigt, daß neurotische Verhaltensweisen deutlich ins Bewußtsein getreten sind und daß die kollektive Einsicht wächst, daß etwas faul ist im Staate Dänemark. Ganzheitliche Konzepte sind im Kommen, und wenn bereits Menschen in Leitungspositionen wie General Chisholm darauf hinweisen, daß das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, dann kann der Teufelskreis vielleicht doch durchbrochen werden. Bis es soweit ist, können wir es uns nur zur Aufgabe machen, diese integrierten Persönlichkeiten, die bereit sind, aufrichtig und in freier Spontaneität Gefahr und Unsicherheit auf sich zu nehmen, hervorzubringen. Aus dem, was ich bisher gesagt habe, ist hoffentlich klar geworden, daß bewußtes wie unbewußtes Planen jeder Behandlung von der Weltanschauung des Therapeuten geprägt ist. Vielleicht kann man zwei Gruppen unterscheiden: die eine durchkreuzt die biologische Figur-Hintergrund-Bildung, die andere unterstützt sie. Die erste verringert Bewußtwerdung und Selbstausdruck, die andere fördert sie. Die eine fördert absichtsvolles Handeln, die andere spontanes. Ein Mann, der an sexueller Impotenz litt, ging zu Coue4 Coué: 1857-1926. Frz. Apotheker. Entwickelte eine Form der auto-suggestiven Psychotherapie (d.Ü.) ... das ist ein typisches Beispiel für die erste Gruppe. Es unterscheidet sich nicht von Ärzten, die Beruhigungsmittel gegen Schlaflosigkeit verschreiben. Der Arzt versteht nicht, daß die Schlaflosigkeit der Versuch des Organismus ist, mit unerledigten Problemen fertig zu werden, mit unausgedrückten Emotionen und anderen ungelösten Situationen. Er verhindert, daß das Problem wirklich sichtbar wird, indem er Schlaftabletten verschreibt, die ein wirksames Mittel sind, Bewußtwerdung zu verhindern, und perpetuiert so eine Situation, mit der der Organismus in seiner unendlichen Weisheit fertig zu werden versucht.

Die zweite Gruppe, zu der Sie und ich gehören, unterstützt den natürlichen Prozeß der Figur- Hintergrund-Bildung. Denjenigen unter Ihnen, die darauf konditioniert sind, sich vorzustellen, daß der Organismus aus vielen Einzelteilen, etwa den Assoziationen, zusammengesetzt ist, mag der Ansatz der Gestaltpsychologie Schwierigkeiten bereiten. Ich will deshalb in aller Kürze das Verhältnis von Figur-Hintergrund-Bildung zu den Systemen von Orientierung und Manipulation zu Dissoziation und Psychotherapie erklären.

Ich will mit meinem Lieblingsbeispiel beginnen. Ein Soldat macht Dienst in der Wüste, nach Tagen des mühsamen Marschierens unter der sengenden Sonne kehrt er ins Lager zurück. Sein erstes Wort ist "Wasser", oder er geht selbst zum Brunnen, falls er noch die Kraft dazu hat. Eine Stunde später stellt er zu seinem Erstaunen fest, daß sein bester Freund beleidigt ist, weil er ihm nicht zu seiner Beförderung gratuliert hat. Der Freund hatte ihm nämlich direkt bei seiner Rückkehr ins Lager aufgeregt davon erzählt.

Unser Soldat hat während seines Marsches durch die Wüste eine beträchtliche Menge Wasser verloren - der Physiologe würde sagen, er ist dehydriert - sein organismisches Gleichgewicht ist solange gestört, bis er wieder eine ausreichende Menge dieser Flüssigkeit zu sich genommen hat. Seine sensorischen Wahrnehmungsmöglichkeiten versorgen ihn mit einer zweifachen Orientierung, einer inneren - nämlich der Wahrnehmung von Durst und dem Gefühl des Verlangens - und mit einer äußeren. Die Welt um ihn herum wird vollkommen unwichtig bis auf alles, was er mit seinem Durstgefühl in Beziehung setzen kann. Nur ein Bächlein oder eine Flasche Bier oder so etwas Ähnliches existiert für ihn, d. h. ruft sein Interesse hervor, wird zur Figur, alles übrige zu verschwommenem Hintergrund. Die enthusiastischen Bemerkungen seines Freundes existierten für ihn nicht, er hörte sie in der Tat so wenig wie wir das Ticken einer Uhr hören, das wir durchaus wahrnahmen, bevor wir uns in ein Buch vertieften. Der Freund war so sehr in den Hintergrund getreten, daß er gar nicht für ihn da war. Unser Soldat hat die Welt bei seiner Rückkehr so für sich eingerichtet, daß sie seinen Wünschen entsprach. Er läuft entweder zum Brunnen und stillt so sein Bedürfnis, oder er teilt seine Bedürfnisse durch Gesten oder Worte mit. Ist seine organismische Balance jedoch wiederhergestellt, dann ist sein Interesse frei für andere Aktivitäten und die Beförderung seines Freundes kann zur Figur werden, das heißt, sie kann zur Realität werden, kann existent werden.

In Ihrer Kamera haben Sie einen Sucher. Dieser Sucher erleichtert das Fotografieren im Vergleich zu der alten und umständlichen direkten Beobachtung durch die trübe Glasscheibe erheblich. Der menschliche Organismus hat ein vergleichbares System zur Verfügung, er hat das, was wir den Verstand nennen oder vielleicht besser gesagt, er hat verschiedene Verstandesebenen (strata of minds), von denen die senso-motorische wahrscheinlich die primitivste ist. Wenn wir keine Umgebung vorfinden, die nach der Figur-Hintergrund-Funktion zur Wirklichkeit werden kann, dann visualisieren wir sie in Tagträumen, nächtlichen Träumen, oder wir halluzinieren sogar die Situation, die für die Befriedigung unserer Bedürfnisse nötig ist.

Offensichtlich paßt in dieser Situation der Freudsche Begriff des Wunschdenkens. Aber die später entwickelten mentalen Systeme der semantischen Einschätzung und der höheren Abstraktion stellen uns ein noch besseres Mittel der Orientierung zur Verfügung als der senso-motorische Apparat, der eher ein - wenn auch oft wertvoller - Indikator für unsere konkreten Bedürfnisse ist. Dieses höhere Verstandessystem, das viele der Funktionen einschließt, die gemeinhin als Denken bekannt sind, kombiniert Orientierung und Manipulation in winzigen Dosen. Es wählt aus, verwirft, kombiniert, es erinnert frühere Erfahrungen, kurz, es tut all das, was Ihnen in Ihrer Ausbildung als eine Funktion des Traumes beschrieben wurde. Es versucht, ungelöste Situationen zu lösen.

Ich nenne diesen Prozeß Instinktzyklus. Der Begriff verweist auf eine Ursache und eine Absicht. Die Ursache ist eine Störung - z. B. Dehydration - die das organismische Gleichgewicht stört, und die Absicht ist die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes. Was Ursache und angestrebtes Ziel verbindet, sind die Figur-Hintergrund-Formation, Spannungen oder Triebe - in unserem Beispiel von oben Durst - Intelligenz, Leistungsfähigkeit und Charakter. Intelligenz ist dann das angemessene Funktionieren des Orientierungssystems, Leistung das des motorischen Systems. Zusammen ergeben sie das Verhaltensmuster, das schließlich als Charakter5 Fritz hat hier anscheinend Reichs Definition von Charakter als Muskelpanzerung vergessen. In der Terminologie der Gestalttherapie ist Charakter eine fixierte Gestalt, die zu einer Blockierung des fortlaufenden Prozesses von Assimilation und Integration geworden ist. und Persönlichkeit integriert wird.

Ich habe die Arbeit des Organismus beschrieben, als sei sie letztlich spontan und biete wenig Raum für bewußte Handlungen - zum Beispiel für so etwas wie Planung. Es muß hier betont werden, daß die bewußten Handlungen zu diesem Zeitpunkt harmonisch im Dienste des Organismus stehen, sie erweitern seine Überlebensfähigkeit, statt sie zu stören.

Das Bild verändert sich durch die ständige Akkulturation. Herrscher, privilegierte Klassen und andere soziale Faktoren führen Tabus ein und erteilen Befehle. Die Moral besteigt den Thron, die Willenskraft wird glorifiziert, und intentionale Handlungen werden verlangt. Aber diese bewußten Aktivitäten sind letztlich oft ein "Nein" zu vielen Instinktzyklen, sie untergraben die biologischen Grundlagen des Menschen, degenerieren ihn und bringen schließlich den Prozeß hervor, von dem wir das zweifelhafte Vergnügen haben, ihn beobachten zu dürfen, nämlich die rapide Gefährdung der menschlichen Überlebenschancen. Das sieht man nur allzu deutlich an den schnell ansteigenden Zahlen von Geisteskrankheiten und psychosomatischen Erkrankungen und auch an der weitverbreiteten Sehnsucht nach besseren Versicherungsmöglich-keiten - dem Ruf nach immer mehr Sicherheit. Was können wir bei diesen trüben Aussichten tun? Können wir aus dem Teufelskreis aussteigen oder ihn gar anhalten?

Das man in den USA so sehr auf die Psychiatrie setzt, birgt zugleich Hoffnung und Gefahr. Die Analyse, die viele Jahre dauert, ist in dieser Notsituation ein großer Luxus, und Kurzzeittherapien ermöglichen nicht die Entwicklung der integrierten Persönlichkeit, die allein das Überleben der Menschheit garantieren kann.

Die amerikanische Regierung beginnt, wenn auch bisher eher chaotisch, einen Kampf gegen Persönlichkeitsstörungen, und so weit es Erziehung und Gruppentherapie betrifft, wird bereits Sinnvolles für die geistige Gesundheit geleistet. Aber wie steht es mit den Behandlungsmöglichkeiten?

Wie viele andere habe auch ich versucht, die Behandlungsdauer der Psychoanalyse zu verkürzen, war mir aber die ganze Zeit dessen bewußt, daß ich nicht Gründlichkeit opfern, sondern Effizienz vergrößern müßte. Durch meine eigene Erfahrung mit den Freudianern und in vielen vergeudeten Jahren habe ich gelernt, manchen Fehler zu vermeiden. Aber das reichte nicht. Ich betrachtete die klassische Analyse wie wir heute die ersten ungeschickten elektrischen Maschinen sehen, und fand dann, daß man sie - wenn ich mir den amerikanischen Ausdruck erlauben darf - stromlinienförmiger anlegen könnte. Die Gestaltpsychologie und der Trend zur Semantik waren mir Orientierungshilfen. Schließlich stieß ich auf eine lächerlich einfach Theorie: wenn der Neurotiker eine dissoziierte Persönlichkeit ist, dann muß man nur all die dissoziierten Teile der Persönlichkeit wieder einsammeln und sie reintegrieren. Wegen ihrer Verschwommenheit und Widersprüchlichkeit mußte ich die Libidotheorie aufgeben, ihre Klebrigkeit konnte ich auch nicht dazu benutzen, die dissoziierten Anteile der Persönlichkeit wieder zusammenzuleimen. So überließ ich sie dem Todestrieb, verabschiedete mich von meiner Verehrung für die Götter Eros und Thanatos und versuchte, neue Wege zu finden. Der Mensch ist mit der Natur verbunden und unterliegt deswegen auch den Naturgesetzen. Die moderne Physik hat entdeckt, daß es keine isolierten physikalischen Kräfte gibt, sondern daß diese Kräfte Funktionen der Materie sind. Deswegen suchte ich nach Funktionen, nicht nach Kräften. Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Integration, so stellte sich heraus, ist weitgehend eine Sache der Assimilation und des Kontaktes, Aggression ist eine Funktion des Umgangs mit der Umwelt, besonders wenn sie im Dienste der Nahrungsaufnahme steht. Symptome, Erinnerungen und Gewohnheiten sind biologische Prozesse. Mit dieser neuen Sichtweise habe ich auch für mich selber an Integration gewonnen. Von da an ging es bergauf. Sich integriert zu wissen, eine Unitary personality zu sein, ist großartig, denn: Integration fördert die ihr eigene Entwicklung, genauso wie Spaltung die persönliche Entwicklung hemmt oder gar rückgängig macht.

Diese neuen Einsichten liefern uns auch klare Hinweise darauf, wann eine psychoanalytische Behandlung zu beenden ist. Sobald ein Patient auf dem Weg zur Integration so weit gekommen ist, daß das bisher gewonnene Maß an Integration die Entwickung unterstützt, können wir ihn ganz sicher alleine weitergehen lassen. Vielleicht können wir dieses Kriterium auch in der Kindererziehung fruchtbar machen und vorsichtig formulieren: ein Kind will keine Zuneigung, es verabscheut sie sogar, wenn es davon erstickt wird. Das Kind will Unterstützung, und das bedeutet: Gelegenheit und Hilfe bei seiner Entwicklung.

Jetzt erwarten Sie vielleicht, daß ich weiter erkläre, wie meine Sicht der menschlichen Persönlichkeit sich von anderen psychoanalytischen Konzepten unterscheidet. Da muß ich Sie leider enttäuschen. Eine detaillierte Darstellung - die über das hinausgeht, was ich bisher gesagt habe, würde viele Stunden dauern, und ich fürchte, ich habe Ihre Geduld schon über Gebühr in Anspruch genommen. Allerdings würde ich gerne noch etwas zu den praktischen Anwendungen meiner Überlegungen sagen.

Ganz simpel ausgedrückt: meine Methode besteht aus Ansporn und Nachfrage. Ich erlege meinen Patienten Übungen auf, die der Art und Weise und der Schwere ihrer Spaltung entsprechen und die ihrer Integration dienen. Ich weiß sehr wohl, daß sie oft nicht dazu in der Lage sind, diese Übungen effektiv zu machen, deswegen untersuchen und analysieren wir Stückchen für Stückchen die Schwierigkeiten und Widerstände, die sie dabei erfahren.

Was meine Therapieplanung betrifft, so unterscheide ich mich nicht sehr von anderen Psychotherapeuten. Wenn ein Freudianer denkt, daß die Neurose Ergebnis einer kindlichen Amnesie ist, dann wird sein Plan darauf hinauslaufen, die ganze Kindheit ins Bewußtsein zu heben, und dieses Ziel verfolgt er mit seinem Handwerkszeug der freien Dissoziation und der Gedankenflucht.

Ein anderer sucht Widersprüchlichkeiten in der Charakerbildung, vergißt dabei die biologischen Grundlagen und behandelt den Charakter, als sei er abgetrennt vom Organismus als Ganzem, ähnlich vielleicht wie in religiösen Vorstellungen die Seele. Ein Adlerianer pumpt systematisch Selbstbewußtsein in seinen Patienten hinein und hebt damit dessen Selbstvertrauen. Wenn er an Einflüsse von außen glaubt, arbeitet er mit Suggestionen, wenn das Problem im Orgonon liegt, befreit er vegetative Energien mit dem Ziel des perfekten Orgasmus. Wenn semantische Blockaden der Sündenbock sind, dann benutzt er das strukturelle Differential zur Heilung.

Ich glaube, daß mein Konzept, weil es den Organismus als Ganzen betrachtet, umfassender und deshalb auch im Ganzen erfolgreicher ist, als die genannten Methoden, und mit Ausnahme der Ansätze von Reich und Korzybski ist mein Konzept auch methodischer. Da ich in meiner Theorie davon ausgehe, daß die grundsätzlichen menschlichen Funktionen die Orientierung und die Manipulation sind, dient jeder Eingriff in den biologischen Instinktzyklus der Aufrechterhaltung der für den Patienten spezifischen Spaltung, und zwar dadurch, daß er Bewußtwerdung verringert oder den freien Gebrauch des motorischen Systems behindert. Unsere Patienten sind desensibilisiert oder unbeholfen oder beides zugleich. Die Tatsache, daß man mit Psychotherapie überhaupt irgend ein Ergebnis erreichen kann, wird mit einem sehr wichtigen Faktor erklärt: man liest oft von Triebunterdrückung. Diese Annahme ist falsch. Triebe können wahrscheinlich überhaupt nicht unterdrückt werden. Das würde nämlich eine völlig veränderte körperliche Verfassung bedingen. Was unterdrückt werden kann, ist ihr Ausdruck und ihre Befriedigung. Die Figur-Hintergrund-Formation kann man durcheinanderbringen, wenn man seine Aufmerksamkeit absichtlich auf etwas anderes richtet. Man kann auch die Bewußtwerdung eines Bedürfnisses zum Beispiel durch Amnesie, Skotomisierung (Einschränkung des Gesichtsfeldes), Frigidität, semantische Blockaden und so weiter ausblenden und ihren Ausdruck und ihre Befriedigung verhindern durch sprachliche oder motorische Blockaden, etwa Lähmungen oder (öfter) Muskel- verkrampfungen.

Um diese pathologischen Störungen aufzulösen, verlasse ich mich auf die detaillierten Beschreibungen des Patienten von dem, was er wahrnimmt, und auf meine eigene Beobachtung, und ich versuche, so wenig wie möglich zu Konstruktionen oder Vermutungen - Interpretationen zum Beispiel - zu greifen, und ich bleibe so nahe wie möglich an der Realität der Situation in der Therapiesitzung.

Laut Freud erlaubt das Realitätsprinzip eine vernünftige Anpassung an die Gesellschaft. Besonders von Mitgliedern dieser Gruppe wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß Freud eine zu rigide Ansicht von der Gesellschaft im Allgemeinen hatte und den Unterschiedlichkeiten der individuellen Umwelten im Besonderen zu wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Für mich ist die Realität die Gegenwart. Die Vergangenheit existiert nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Während Freud zu viel Wert auf Ursachen und Vergangenheit legt, betont Adler zu sehr die Zielausrichtung und die Beschäftigung mit der Zukunft, und beide verpassen sie dabei die Balance der Gegenwart. Vor etwa einem Monat machte ich eine schockierende Erfahrung. Nach Jahren der psychoanalytischen Behandlung, zuerst bei einem der führenden Vertreter der klassischen Schule, später bei einem anderen, kam eine Dame in einem ziemlich schlechten Zustand zu mir. Während sie davon erzählte, zuckte sie zweimal zusammen, als erschrecke sie sich ganz fürchterlich. Beides mal geschah das, als sie sich traute, Zweifel anzumelden. Ich fragte sie, was ihr Analytiker zu diesen Zuckungen gesagt hätte. Sie antwortete: "Er hat sie nie bemerkt." Hätte ich diese beiden Analytiker über ihr Vorgehen befragt, würden sie natürlich beide behaupten, daß sie von Gegenwärtigem ausgingen. Vielleicht tun sie es ja sogar. Auch wenn ich nur einen einzigen Krümel zum Frühstück zu mir nehme, kann ich behaupten, daß ich etwas gegessen hätte. Übrigens, sie erholt sich gut von ihrer Psychoanalyse. Als ersten Schritt auf dem Weg zur Integration unterstütze ich alles, was der Wahrnehmung dessen dient, was ist: die Erfahrung des Selbst und der Welt. Der Neurotiker hat zu wenig Kontakt mit der Realität. Außer, daß er die Gesellschaft anderer meidet und in intellektuelle Denkspiele ausweicht, finden wir ihn auch oft auf der Flucht in die Vergangenheit, beim Suchen nach sogenannten Ursachen oder Erklärungen und bei anderen Versuchen, die Verantwortung zu vermeiden, oder er flüchtet in die Zukunft, zum Beispiel in Tagträume, er wartet auf Belohnungen des Himmels, er baut Luftschlösser.

Einer meiner Patienten verbrachte die ersten eineinhalb Jahre seiner Behandlung damit, seinem Analytiker zu erzählen, wie schwierig seine Frau, wie enttäuschend seine Freunde, und wie problematisch seine geschäftliche Lage sei. Bereitwillig produzierte er Assoziation zu den unterschiedlichen Menschen und brachte viel Material. Allerdings war auch die gegenwärtige Situation, nämlich die der Analyse, von Bedeutung. Als er mir von all diesen Leuten vorklagte, forderte ich ihn dazu auf, seiner jammervollen Stimme zuzuhören. Wir redeten dann darüber, daß er es vermied, die entsprechenden Leute zu konfrontieren, was nämlich geheißen hätte, persönlichen Kontakt mit ihnen aufzunehmen, stattdessen beklagte er sich immer nur bei dem einen über den anderen.

Ich fange gerne mit einer pedantischen Übung an: ich bitte den Patienten darum, jeden Satz mit "jetzt" oder sogar "hier und jetzt" anzufangen, also etwa: "Jetzt liege ich auf der Couch, jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll, jetzt fühle ich, wie mein Herz schlägt, jetzt denke ich gerade daran, wie ich gestern mit meiner Frau Krach hatte." In der letzteren Bemerkung wird die Verbindung zwischen der Bewußtwerdung einer leichten Besorgnis und der Erinnerung an die Beziehung des Patienten zu seiner Frau ganz offensichtlich. Oft aber flüchtet der Patient vor der direkten Erfahrung der Gegenwart. Er verschwindet lieber in die Vergangenheit oder er springt in die Zukunft, besonders, wenn er Erfahrungen mit der Freudschen oder Adlerschen Methode hat. Ich bleibe aber dabei, daß die Vergangenheit nur von Bedeutung ist, insoweit sie unerledigte Situationen repräsentiert - zum Beispiel unverdaute Erfahrungen. Die Flucht in die Zukunft wird auch dann pathologisch, wenn der Patient, anstatt sich mit gegenwärtigen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, sich mit "falls" und "wenn" und anderen Tagträumereien betäubt. Wir träumen immer in der Gegenwart, wir erfahren einen Traum als gegenwärtig. Das Wissen um dieses Phänomen wird in der Hypnose verwendet, wenn man den Patienten dazu anleitet, wie in einer Zeitmaschine Orte der Vergangenheit aufzusuchen. Diese Vorgehensweise kann auch ohne die Komplikationen der Hypnose eingesetzt werden. Probieren Sie es an sich selbst aus. Erinnern Sie sich an irgendeinen Ort ihrer Kindheit zurück und beschreiben Sie ganz einfach alles ganz detailliert, was Sie sich bildlich vorstellen. Sie werden staunen, was für eine Menge vergessenen Materials Sie wiederentdecken werden.

Wenn der Patient das Konzept "jetzt" verstanden hat, lasse ich das Wort "jetzt" meistens weg und mache ihn mit der Grundregel vertraut, die da heißt, daß er mir alles mitteilen soll, was er tut, denkt, fühlt und erlebt, daß er nichts absichtlich zurück-halten soll, aber er soll sich auch nicht dazu zwingen, etwas zu sagen, was er nur ungern ausdrückt. Er soll nur andeuten, daß es etwas gibt, was er nicht mitteilen kann oder will.

Wie Sie sicher bemerkt haben, bezieht sich der letzte Teil der Grundregel auf den Umgang mit dem Zensor und die Frage der verschiedenen Formen des Widerstandes, wie zum Beispiel Scham, Angst, Ekel, Höflichkeit und so weiter.

Der erste Teil der Regel ist, so weit ich das übersehen kann, umfassend, vor allem, wenn Sie sich daran erinnern, daß Denken Orientierung und Manipulation in kleinen Dosen ist, daß Denken unsichtbare Handlung ist. Die Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten zur Kooperation läßt sich zu diesem Zeitpunkt gut daran messen, ob er ohne Bezug zur Gegenwart in die Zukunft oder Vergangenheit entflieht. Das allgemeine Verhaltensmuster seiner interpersonellen Beziehungen spiegelt sich nun auch in der analytischen Situation. Er ist vielleicht sklavisch gehorsam, oder er macht sich über das Verfahren lustig, oder er kooperiert an der Oberfläche, führt aber die Regel ad absurdum, er spricht über die Regel, aber er hält sich nicht daran. Wenn er sich nicht an die Regel halten kann, obwohl er schon wirklich erschütternde Erfahrungen gemacht hat, dann ist das immer ein Zeichen für beträchtlichen Widerstand, und den kann er dann auch langsam als solchen erkennen.

Ich will kurz zwei Fälle darstellen, die zwei Extremvarianten von Kooperation demonstrieren:

Der erste Fall ist der einer Frau von etwa 40 Jahren, Sozialarbeiterin mit dem Ehrgeiz, Psychoanalytikerin zu werden. Sie spricht sehr gekünstelt und ersetzt Inhalte durch Fremd-worte. Sie ist eher grob vom Typ her, hat aber die Illusion, eine Dame und für höhere Dinge im Leben geboren zu sein. Lange Zeit konnte ich nichts tun als sie immer wieder dazu überreden, die Basisübung zu machen. Sie bestand einfach darauf, das sei Zeitverschwendung, daß sie sich langweile, oder sie benannte einfach die Gegenstände im Zimmer. Außer gelegentlichem Herz-klopfen spürte sie gar nichts. Sie war, um es deutlich zu sagen, weitgehend von ihren Gefühlen abgetrennt und intellektuali-sierte, wenn man denn diese dementia verbosa Intellekt nennen kann. Zu der 14. unserer Sitzungen kam sie dann allerdings mit einem Notizbuch in der Hand, in dem sie die Regeln, nach denen ich sie zu analysieren hätte, aufgeschrieben hatte. Sie lag eigentlich immer in einer sehr abweisenden Haltung auf der Couch, an diesem Tag aber zeigte sie sich etwas offener, wurde nach einiger Zeit recht unruhig und bemerkte das auch. Schließlich brach sie in Tränen aus und sagte: "Ich fühle mich wie ein Schiff, das hin- und hergeworfen wird. Ich muß die Oberhand behalten, sonst gehe ich unter." Bis zu diesem ersten Durchbruch hatte es 14 Stunden gedauert, - aber der Durchbruch brachte nichts. Im Gegenteil, sie wurde sogar immer schwieriger und wollte aufhören. Da ich meine Patienten eigentlich nicht für ihre Widerstände verantwortlich mache und ihnen Schuld zuweise, mußte ich mich folglich meinen eigenen Unzulänglichkeiten stellen, und da stieß ich auf das folgende Faktum: Ich war in den Fall persönlich verwickelt. Ich hätte mich so gerne mit Erfolg bei ihr gekrönt, sie hätte mir und der Welt beweisen können, daß ich auch mit so schwierigen Fällen fertig würde. Das heißt, ich hatte die analytische Objektivität verloren und hatte sie zu einem Gegenstand meines Ehrgeizes gemacht. Anstatt mich mit der vorliegenden Situation zu befassen, war ich dem Denken an die Zukunft verfallen, dem Zweckdenken. Des weiteren bemerkte ich, daß ich ärgerlich geworden war, als sie mit ihren Vorschlägen herausgerückt kam, ärgerlich darüber, daß diese aufgeblasene Nummer mir zeigen wollte, wie ich vorzugehen hätte. Dieser Ärger war ein Zeichen dafür, daß sie recht haben mußte. Sie konnte mir tatsächlich etwas beibringen, und sie tat es auch: nämlich, daß ich mich in meiner eigenen Theorie verheddert hatte, nämlich daß ich, statt auf die Aktualität ihres Symptoms, ihr Bedürfnis top dog zu sein, zu schauen, darauf reagiert hatte.

Ich ließ sie dann ihr Bedürfnis ausleben, Vorschläge zu machen und Forderungen zu stellen. Schließlich kristallisierte sich ihr Wunsch heraus, unter jeder Bedingung angenommen zu werden. Ich erklärte ihr, daß sie zwar akzeptiert werden wollte, daß sie aber nicht bereit war, mich und meine Art, mit ihr umzugehen, zu akzeptieren, und darüber hinaus, daß sie nicht bereit war, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren. Langsam beginnt sie, ihren neurotischen Konflikt zu verstehen, nämlich den Kampf zwischen der künstlichen Fassade und dem emotionalen Selbst, vor dem sie sich fürchtet.

In dem anderen Fall sind erst fünf Sitzungen zustande gekommen. Der Patient ist Philosophiestudent und als schizoid diagnosti-ziert. Er kam zur Analyse, weil er den Geschmack am Leben verloren hat, er trug sich mit Selbstmordgedanken, kann sich nicht mehr konzentrieren. Er ist homosexuell, lebt seine Sexualität aber nicht aus. Philosophisch sieht er sich Aristoteles nahe, in letzter Zeit hat er aber Interesse an Husserl und den französischen Existentialisten entwickelt.

Da mein Ansatz sich auf Husserls Phänomenologie bezieht, fand er es nicht schwierig, mir zu folgen und nach der ersten halben Stunde konnte ich zum nächsten Schritt übergehen - dem Umgang mit Prozessen. Während es anfänglich ausreicht, wenn der Patient versteht, daß etwas "da ist" muß er später verstehen, daß etwas "vorgeht", und zwar kontinuierlich. Er muß sich mit der Tatsache vertraut machen, daß seine Erfahrungen, sein Verhalten, seine Symptome, seine Gedanken usw. Prozesse sind. Ereignisse der Raum-Zeit. Sie dauern an. Er muß lernen, sich auf sein Symptom zu konzentrieren und dann die Entwicklung zu verfolgen, die in ihm vor sich geht, sobald er in Kontakt damit ist, sobald er wieder sensibel dafür wird und Bewegung in die Symptomatik kommt.

Was jetzt folgt, ist eine Ausschnitt aus der dritten Stunde. Er erzählt: "Meine Stirn tut weh, mein Mund ist ausgetrocknet, mein Kopf möchte sich in das Kissen zurückdrücken. Jetzt bin ich außer Atem. Ich sehe, wie ich eine Straße entlang renne, ein Auto fährt über mich, aber es berührt mich nicht. Ich weiß nicht, ob das wirklich passiert ist. Meine Knie sind ganz schwer, meine Augen wollen sich schließen, ich habe das Gefühl, weinen zu wollen, aber ich kann nicht. Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr geweint." Dann fängt er an, von seinem Vater zu erzählen, der von einem Auto totgefahren wurde. Er erzählt dies und weitere Einzelheiten des Unfalls und des Todes mit sehr sachlicher Stimme. In dem Moment aber, als er sich den Sarg bildlich vorstellt, bricht er in lautes, intensives und echtes Weinen aus.

Eben dieser Patient hat ein Syndrom, das sich am besten mit Hilfe von Hausaufgaben angehen läßt. Diese Hausaufgaben sind wichtig, wenn es darum geht, die Behandlung zu verkürzen. Obwohl die klassische Analyse verlangt, daß der Patient sich ganz der Analyse hingeben soll und er damit aufhören soll, Sachen zu tun, freut sich auch der Freudianer, wenn die Patienten etwas über sich selbst herausfinden oder sich trauen, eine Straße zu überqueren, obwohl sie an Agoraphobie leiden. Warum also soll man dann die Kooperation des Patienten nicht planen und miteinbeziehen, oder, wie im Falle der unbewußten Sabotage oder der zwanghaften Ersatzhandlungen, diese benutzen, um die Bewußtmachung der Widerstände zu mobilisieren?

Unser Philosophiestudent hat den Kontakt mit und den Geschmack an seiner Umwelt verloren. So weit ich das beurteilen kann, geht das immer einher mit einem tauben Gaumen. Er genießt und schmeckt seine Nahrung nicht. Er hat am Essen nur Freude, wenn er für einen anderen kocht, und dem anderen schmeckt es. In einem solchen Fall verordne ich Übungen rund ums Essen. Das fängt damit an, daß ich Beobachtungen anstellen lasse, wieviel Aufmerksamkeit der Patient seinem Essen schenkt. Liest er oder hängt er Tagträumen dabei nach? Schlingt er sein Essen hinunter, oder anders gesagt, trinkt er gleichsam selbst feste Nahrung?

In der fünften Sitzung berichtete er, daß er bereits anfange, sein Essen zu schmecken und entsprechend werde auch sein Leben wieder interessanter. Er gehe wieder aus und nehme wieder Kontakt mit seinen Freunden auf. Obwohl er sich im großen und ganzen immer noch sehr hölzern ausdrückt, kann ich schon einige Lockerungen seines Gefühlslebens beobachten, z. B. lächelt er manchmal flüchtig.

Wenn ein Patient sich gegenüber seinem eigenen bildlichen Vorstellungsvermögen blind gemacht hat und anstatt von Bildern nur Wörter in seinem Kopf hat, versuche ich, ihn Interesse an seiner Umgebung entwickeln zu lassen, statt daß er sie nur abstrakt wahrnimmt. Gleichzeitig versuche ich, seine Zurückhaltung aufzuweichen und ihn einen Eindruck von der Welt da draußen gewinnen zu lassen.

Die Patientin, die ich weiter oben erwähnte, hat eine völlige Visualisierungsblockade. Aber im Augenblick stellt sich noch gar nicht die Frage, wie ich das Problem mir ihr angehe, denn im Augenblick ist sie nur daran interessiert, wie die Welt sie sieht.

Ein intelligenter und gewissenhafter Ausbilder kam wegen seiner sexuellen Impotenz zu mir in die Analyse. Er sprach sehr schnell auf die Konzentrationstechniken an. Nach einigen Sitzungen zappelte er auf der Couch herum, und erinnerte sich dann daran, daß er genau so zappelte, als er neun jahre alt war und seine Mutter ihn dazu zwang, ruhig zu liegen, während sie Würmer oder so etwas ähnliches aus seinen Genitalien entfernte. In den darauffolgenden Sitzungen veränderten sich seine Bewegungen und wir gingen ihnen mit Interpretationen nach. Aber gerade daß er so leicht und schnell mit Interpretationen zur Hand war und auch, daß er mit Reichs Arbeit vertraut war, machte mich mißtrauisch. Vielleicht versuchte er nur, seiner eigenen Erwartung an eine Reichianische Analyse gerecht zu werden. Ich war auch nicht so schnell bereit, meine Überzeugung aufzugeben, daß die aktuelle Situation von entschiedener Wichtigkeit sei. Schließlich produzierte er Unruhe als Symptom, und die hörte nicht auf. Zum ersten Mal konnte er selber keine Interpretation dafür liefern. Er konnte einfach nicht ruhig auf der Couch liegenbleiben. Eine oder sogar beide Schultern hielt er immer nach oben gekrümmt. Ich fand, er sehe aus wie in einem Ringkampf. Diesen Eindruck bestätigte er. Er erinnerte sich an einen Ringkampf, in dem er sich mit dieser Haltung zu wehren versucht hatte. Das Symptom dauerte an oder, besser gesagt, er behielt seine Körpersprache bei, bis ich ihn fragte, ob diese Körperhaltung vielleicht symbolisch seine Haltung zu mir aus-drücke. In diesem Moment ließ er los. Wir hatten uns einige Zeit vorher über experimentelle Psychologie gestritten, und er hatte damals wie heute rigoros abgelehnt, sich meinen Ansichten anzuschließen. Auf meine Frage: "Könnten wir uns nicht vielleicht darauf einigen, verschiedener Meinungen zu sein?" beruhigte er sich und lehnte sich zum ersten Mal entspannt zurück.

Den meisten Patienten macht es keine Schwierigkeit, ihre Desensibilisierungen und Verkrampfungen direkt anzugehen. Im Gegenteil, sie bemerken schnell, daß etwas passiert; sie sehen, daß schmerzhafte und störende Symptome verschwinden oder sich in Wohlgefühl verwandeln. In diesen Fällen hat, bei aller unflexiblen Selbstkontrolle, ein gewisser Kontakt zum Selbst überlebt.

Es gibt aber mindestens drei Gruppen von Patienten, die die langwierige archäologische Arbeit der Charakteranalyse benötigen, bevor man mit der phänomenologischen Analyse einsetzen kann. Bei diesen Menschen findet man tiefsitzende Verachtung für ihre spontane Persönlichkeit, Verleugnung dessen, "was ist", und Glorifizierung dessen "was sein sollte". Diese Menschen hängen Idealen an, und sie haben ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse so weit abgespalten, daß sie diese unter keinen Umständen wahrnehmen und auf keinen Fall als Teil ihres Selbst akzeptieren können.

Außer dieser Gruppe gibt es noch die "als ob" Persönlichkeiten, um einen Begriff zu verwenden, den Helene Deutsch geprägt hat. Diese Patienten spielen Rollen vor, und durch eine Art von Pseudo-Mitarbeit täuschen sie den Analytiker so, wie sie sich schon durch ihr ganzes Leben geschwindelt haben. Erst wenn sie merken, daß sie sich immer wie auf einer Bühne bewegen, daß sie nicht einen Charakterpanzer sondern eine ganze Schrankwand voller Kostüme haben, kommen sie mit ihrer wahren Natur in Berührung. Dieser Schritt wird gemeinhin von einem Gefühl großer Leere und von Sehnsucht nach Empfindungen begleitet. Es gibt ein Symptom, das eine "als ob" Persönlichkeit ankündigt: das Gefühl chronischer Langeweile. Wie Sie wahrscheinlich wissen, setzt Langeweile ein, wenn Ihre Aufmerksamkeit auf eine Situation gerichtet wird, an der Sie kein Interesse haben, und wenn gleichzeitig die natürliche Figur-Hintergrund-Formation block-iert ist. Die "als ob" Persönlichkeit versucht, der Langeweile mit sich steigender Sucht nach Aufregung und manchmal nach Drogen zu entkommen, anstatt sich der Figur-Hintergrund-Formation zu überlassen.

Eine andere Patientengruppe bereitet große Anfangsschwierig-keiten, das sind die eher zwanghaften. Ich beziehe mich jetzt nicht auf die gewissenhaften, systematischen, vielleicht über-systematischen, hart arbeitenden Menschen. Die sind sehr kooperativ. Aber es gibt einen weiteren zwanghaften Charakter, der hauptsächlich Angst davor hat, daß man sich lustig über ihn macht, ihn zum Narren hält. Er beschäftigt sich mit nutzlosen Ersatzhandlungen, in Gedanken wie im Leben. Er ist immer ernst, aber nie ernsthaft. Bei ihm liegt die anfängliche Schwierigkeit darin, ihm klar zu machen, daß er nur ein einziges Ziel verfolgt: nämlich heimliche Triumphe zu feiern. Er führt Anforderungen ad absurdum, streitet stundenlang herum, frustriert und zeigt seinem Therapeuten, daß der ein impotenter Esel ist, unfähig, mit einem cleveren Burschen wie ihm fertig zu werden. Aber er projiziert seinen eigenen Spott und stellt sich vor, daß andere ihn zum Narren halten wollen. Ihnen fällt nicht auf, daß er derjenige ist, der alle zum Narren halten will. Erst wenn er merkt, wie närrisch es ist, sein Leben damit zu verbringen, kann er sich mit ernsthafter Arbeit und Kooperation befassen.

Vielleicht kann man dieser Kategorie auch Patienten zuordnen, die als wertvolle Stützen der Gesellschaft ausgewiesen sind. Sie müssen immerzu ihre eigene Existenz rechtfertigen. Man weiß ja, daß ein Mann, der ständig seine sexuelle Potenz beweisen muß, sich ihrer nicht recht sicher ist. Eine ähnliche Struktur findet sich in einem Menschen, der sich seiner Existenzberechtigung nicht sicher ist. Er existiert nicht ganz und gar. Wie die drei Typisierungen, die ich vorher aufgezählt habe, ist er bis zu einem solchen Grad desensibilisiert, daß intellektuelle und soziale Ziele die ungefühlten biologischen Triebe ersetzen. Ohne seine selbst konstruierten Ziele würde er sich so leer fühlen wie die drei anderen Gruppen. Marx sagte einmal, daß die Existenz eines Phänomens seine Notwendigkeit beweise. Gäbe es die amerikanischen Neurosen nicht, würde die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten schnell aussterben. Auf gleiche Weise bezieht der französische Existentialismus seine raison d'étre aus unserem schnell dahinschmelzenden Grad an Selbstgewahrsein.

Interessanterweise wirft unser Thema auch ein Licht auf den Alkoholismus. Dieser ist nämlich ein fruchtloser Versuch, den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Selbstausdruck und der Desensibilisierung zu lösen. Das Trinken unterstützt die emotionale Entladung - und verringert dadurch die unerträgliche Spannung -, aber das Gewissen oder das Ideal und die Gefühle der Unzulänglichkeit und Gehemmtheit werden nur zeitweise gedämpft. Der Alkoholiker schafft es genauso wenig wie die anderen Neurotiker, seine Individualität der Gesellschaft unterzuordnen, er schafft es nicht, sich gesellschaftlichen Forderungen zu unterwerfen, und wird nicht zum wohlerzogenen Roboter.

Ich muß zum Ende kommen. Ich kann hier nicht auf all die unterschiedlichen Weisen eingehen, wie Menschen ihre Orien-tierungs- und Manipulationsfähigkeit abstumpfen (lassen). Ich muß die sehr interessante Verbindung zwischen Empfindungs-losigkeit bei der Nahrungsaufnahme und paranoiden Phänomenen auslassen, zwischen Retroflektion und Verdrängung, zwischen Ich-Entscheidung und Kontakt-Funktionen und vielen anderen Phänomenen, die sich mit Störungen im Prozeß des Gewahrseins befassen, aber ich kann eine grobe Skizze entwerfen, wie eine durchschnittliche Behandlung verläuft:

Im Vorfeld finden wir als Sicherungsposten des Status quo den Charakter. Wenn wir die Hauptwiderstände eben jenes Charakters durchgearbeitet haben, lernt der Patient, sich wieder selbst zu erfahren. Das wichtigste an diesem Punkt der Selbsterfahrung ist ein Höchstmaß an Bewußtheit, die Unterscheidung zwischen pathologischer Introspektion und intensiviertem Lebensgefühl. Indem er lernt, seinen eigenen Prozeß bewußt zu erleben, erfährt er sich als gespalten zwischen seinen absichtlichen und ver-drängenden und seinen spontanen und verdrängten Persönlichkeits-anteilen. Während dieser Zeit identifiziert er sich mit seinen verdrängenden Anteilen, die sich auf jede nur mögliche Weise von den inakzeptablen Teilen seiner Persönlichkeit abspalten wollen, zum Beispiel durch Muskelverspannungen. In dieser Phase sind alle seine interpersonellen Beziehungen von der Angst besetzt, er sei für seine Umnwelt unausstehlich. In der nächsten Phase muß er lernen, seine Impulse zur Selbstkontrolle, seine Selbst-vorwürfe, seine Selbstbestrafungen wieder auf seine Umgebung zu richten. Dadurch vervielfältigen sich seine Kontaktmöglichkeiten mit Freunden und Feinden. Ganz bewußt beginnt er nun damit, diese zu kontrollieren, ihnen Vorwürfe zu machen, sie zu be-strafen. Diese Richtungsumkehr macht es ihm möglich, viele Konflikte zu beenden, die durch Internalisierung zu chronischen geworden waren. Er kann nun aus Selbstvorwürfen Begegnungen machen. Wenn er sich mit all seinen Prozessen identifizieren kann, lernt er auch allmählich, seine spontane Persönlichkeit zu akzeptieren. Wenn seine inneren Konflikte verschwinden, wird er stark genug und so mit sich selbst identisch (unified) sein können, daß er seine eigenen Meinungen so wertschätzen kann, wie vorher nur die der anderen. Statt in Furcht vor Ablehnung und mit der Sehnsucht nach Angenommen-Werden zu leben, ist er es jetzt, der akzeptiert und ablehnt. Er nimmt von der Welt so viel, wie er für seine künftige Entwicklung will und braucht. Während er vor seiner Therapie Menschen in Gute oder Schlechte geteilt, und sie akzeptiert oder abgelehnt hat, unterscheidet er jetzt Situationen und Qualitäten. Er entwickelt einen eigen-ständigen Geschmack und übt Einfluß auf die Welt nun so aus, daß ein Optimum von Befriedigung möglich ist. Seine Vorsätzlichkeit verwandelt sich von autoritärer Selbstkontrolle in liberale Selbst- und Objektorganisation.

Ich hoffe, ich konnte zeigen, daß die Neurose ein lebensfeindlicher Versuch ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Neurose funktioniert nach dem biblischen Grundsatz von "Wenn Dich ein Auge stört, so reiß es aus ..." Das Resultat ist eine eingeschränkte anstelle einer ganzheitlichen Persön-lichkeit.

Durch Resensibilisierung und Remobilisierung des Systems zur Orientierung und Manipulation erreicht man die Reintegration der abgespaltenen Teile der Persönlichkeit am besten. So weit ich es überschauen kann, führt dieser Ansatz sehr weit. Wenn der Patient seine Symptome etc. prozeßhaft erleben kann, übernimmt er die Aufmerksamkeit und bewußte Kontrolle, die für seine semantische und soziale Einpassung nötig ist -, das heißt, er versteht seine persönlichen Bedürfnisse und kann seine Umgebung daraufhin beeinflussen. Diese Prozesse geschehen in der Gegen-wart und müssen deswegen auch als gegenwärtige behandelt werden; denn sie sind der Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Reorganisation der Persönlichkeit durchläuft Pro-zesse, die integrierend wirken und solche, die desintegrieren. Sie sollte so ausbalanciert werden, daß nur so viel abge-spaltenes Material frei wird, wie der Patient assimilieren kann. Sonst könnten seine sozialen oder sogar seine biologischen Grundlagen ernsthaft gefährdet werden.

Der analytische Prozeß der Desintegration trifft auf infantile und irrationale Einstellungen, auf unangemessene und rigide Versuche, der Umwelt zu begegnen, auf emotionale und semantische Blockaden. Die integrierenden Prozesse fördern die Anerkennung und Assimilation von traumatischen, introjizierten und proji-zierten Materialien, die Kontaktfunktionen und den emotional und semantisch angemessenen Ausdruck des Selbst.

Sobald der Therapeut die Struktur der Neurose durchschaut hat, sollte er seinen Therapieplan entwerfen, aber während der ganzen Behandlungsdauer wachsam und flexibel damit umgehen.

Ich möchte diesen Vortrag nicht beenden, ohne eine Gefahr zu erwähnen: zwischen den einseitigen Ansätzen, nämlich zwischen den rein psychologischen Konzepten von Korzybski, Adler und Horney, und den biologistischen Methoden der Schulen von F.M. Alexander und Elsa Gindler, zwischen der analytischen Technik Freuds und den kreativen Bemühungen, sagen wir mal, eines Musiklehrers; zwischen Reichs sexualisierter Persönlichkeit und Jungs desexualisierter Libido; inmitten aller dieser Abstrak-tionen von dem, was die vollständige Persönlichkeit ausmacht, gibt es noch genug Raum für und sogar ein Bedürfnis nach dieser und vielen anderen Vorgehensweisen. Eine weitere Gefahr, die ich sehe, ist die des Elektizismus. Statt einen umfassenden und unitaristischen Standpunkt (Unitary point of view) einzunehmen und aus diesem Zentrum zu agieren, springt man möglicherweise von Methode zu Methode, verbreitet Verwirrung und produziert nur einen weiteren Typ von gespaltener Persönlichkeit.

Das Konzept und die Erfahrung, daß die menschliche Persön-lichkeit ein unteilbares Ganzes und immer in die Umgebung eines persönlichen und sozialen Feldes eingebettet ist, bietet Schutz gegen diese Gefahr. Da Ihr Institut auf diesem Konzept aufbaut, ist die Gefahr, einem solchen Elektizismus nachzugeben, gering. Im Gegenteil, wenn ich einen Vorschlag machen darf, dann empfehle ich Ihnen als notwendig komplementären Aspekt zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit das Studium von zumindest drei Theorieansätzen: Gestaltpsychologie, Semantik und last not least das Konzept der Gindler Schule.6 Fritz hatte damals gerade Charlotte Selver kennengelernt und arbeitete mit ihr zusammen. Ich hatte etwas Gindler-Arbeit in Berlin und vorher und auch später jahrelang ähnliche Körperarbeit gemacht. Fritz war damals noch zu sehr Analytiker und eigentlich gar nicht an Körperarbeit interessiert.

Schließlich will ich noch einige persönliche Bemerkungen an-schließen: Ich möchte Ihnen allen danken, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, meinen Standpunkt hier darzulegen.

Nachdem ich jahrelang in Afrika alleine mit den Freudschen Ideen gekämpft hatte7 Fritz hatte nicht "ganz alleine gekämpft". Nicht nur mit mir sondern einer kleinen Studiengruppe zusammen besprachen wir damals in unserer Zeit in Südafrika alle anliegenden Probleme., bin ich zu dem folgenden Ergebnis gelangt: Obwohl Freud der Livingstone des Unbewußten war, war die Landkarte, die er gezeichnet hatte, bereits veraltet. Sie funktionierte nicht mehr als Wegweiser, als Orientierungshilfe, sie mußte neu entworfen werden. Ich war überzeugt, daß ich einige wichtige Orientierungspunke entdeckt hatte, aber viele weiße Flecken - zum Beispiel was Bewußtheit (Awareness) ausmacht - waren geblieben. Ich bin schließlich an den Punkt gekommen, wo ich einige meiner Eintragungen in der Karte überprüfen und wo ich vielleicht auch einige der weißen Flecken ausfüllen kann. Da die USA sich zum Zentrum der Wissenschaft entwickelt hat, lag es für mich auf der Hand, daß ich hierher kommen wollte. In Südafrika galt ich als größenwahnsinnig, weil ich es gewagt hatte, den Worten des Meisters zu widersprechen, in Kanada wurde ich für einen Dummkopf gehalten, weil ich den sakrosankten Reflexbogen anzweifelte, in New Haven wurde ich für vogelfrei erklärt, weil ich Psychotherapie ohne medizinische Erlaubnis ausüben wollte und, was schlimmer war, weil ich keiner festen Gruppe angehörte, in New York nun eigentlich als wahnsinnig, weil ich eine gesicherte ökonomische Position aufgegeben hatte. Irgend etwas muß an mir doch nicht ganz richtig sein, oder vielleicht treiben mich ja höhere, andere Beweggründe. Natürlich kann ich nicht die Wurzeln einer Glaubensrichtung attackieren und gleichzeitig auch erwarten, von ihr akzeptiert zu werden, aber ich weiß, daß ich nicht einfach destruktiv, sondern konstruktiv bin und auch etwas zu sagen habe. Lag ich vollkommen falsch oder waren alle anderen blind? Dann geschah ein Wunder. Vor ein paar Monaten traf ich ein paar Mitglieder Ihrer Gruppe, und ich war wie selten in meinem Leben tief bewegt. Tatsächlich gab es offenbar ein paar Menschen auf dieser Erde, die die Welt so sahen wie ich, deren Sprache meiner ähnlich war. Es war wie ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Ich kam mir vor wie ein Seemann, der wußte, daß er auf dem richtigen Kurs ist, aber daran zweifelte, ob er je wieder Land sehen würde, und ganz plötzlich und unerwartet lag es vor ihm. Aber das ist ja nicht alles, dabei darf man nicht stehenbleiben. Die große Welle der menschlichen Desintegration, kommt auf uns zu, der Selbstmord der Menschheit. Deiche müssen erbaut werden. Können wir das zusammen angehen? Könnte die Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht zu spät ist, zur Möglichkeit werden?

Freud fing damit an, den Neurotiker als den Ausnahmefall einer gesunden Umgebung zu betrachten. Ich glaube jedoch, daß inzwischen die Neurose ein umfassendes soziales Problem geworden ist. Deswegen heißt die Frage, die ich Ihnen stellen will: ist die Zeit reif dafür, daß wir diese soziale Krankheit in einem größeren Rahmen sehen können, anstatt weiterhin Stückwerk zu leisten, womit wir uns bisher beschäftigt haben? Kann oder soll man Psychotherapie in einer anderen Größenordnung planen? Ich persönlich zweifle daran, daß Gesellschaft und Regierung bereit dazu sind, das ganze bedrohliche Ausmaß des Problems zu sehen, aber ich habe auch den Eindruck, daß sie für die Existenz des Problems nicht mehr ganz unempfindlich sind.

Freud sah nur das Unbehagen an unserer Kultur. Spengler sah den Untergang des Abendlandes. Wir sind im Moment Zeuge des Auseinanderfallens von Europa, aber wir sind auch Zeugen von etwas ganz anderem. Früher konnte eine Kultur ihren Lauf beenden und verschwinden, und es gab genug Platz auf der Erde für zukünftige Kulturen. Aber die Welt ist geschrumpft, alle Nationen werden in die Einflußsphäre des europäisch-amerika-nischen Kulturkreises einbezogen. So heißt das Ende dieser Kultur das endgültige Ende. Eine schizophrene Weltuntergangs-phantasie scheint Wirklichkeit zu werden. Es war nicht ein Wissenschaftler, sondern ein Dichter, der das zuerst sah:

D.H. Lawrence schreibt8In Lady Chatterley's Lover (Penguin 1961, p. 226) Perls nennt weder den Text, aus dem er zitiert, noch zitiert er genau. Möglicherweise lag ihm 1947 eine "gereinigte Fassung" vor, denn er tilgt das Adjektiv halfballed. Die andere Veränderung ist allerdings unverfänglich, betrifft ein Verb und bezieht sich auf den Regen. Der Kontext des Zitats ist politischer, als er sich hier vielleicht anhört: die Tommys sind die einfachen englischen Soldaten im Gegensatz zu den Offizieren der Oberschicht, beides Engländer und nicht im Kontrast zu anderen Nationalitäten. (in: Lady Chatterley's Liebhaber): "... Connie lachte. Es regnete in Strömen. 'Er haßte sie!'

'Nein' sagte er. Sie waren ihm gleichgültig. Er mochte sie einfach nicht. Das ist ein Unterschied. 'Weil die Tommys', so sagte er, 'genauso verklemmt und engherzig werden. Den Weg wird die ganze Menschheit gehen.'"

(Aus dem Amerikanischen von Christiane Schmitt und der Redaktion Gestaltherapie)

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